OGH-Entscheidung vom 17.2.2023, 6 Ob 77/22z

 

Sachverhalt:

Ein Verein, dessen zentrales Anliegen die Schaffung einer österreichisch-islamischen Identität junger MuslimInnen ist, und dessen Bundesvorsitzender klagten einen Universitätsprofessor für Islamische Religionspädagogik. Der Zweitkläger und der Beklagte hatten zuvor an einer Videodebatte teilgenommen, die vom Journalisten einer österreichischen Tageszeitung moderiert und auf der Website dieser Zeitung unter dem Titel „Islamlandkarte: Plumpe Hetze oder hohe Wissenschaft?“ veröffentlicht wurde. Dabei wurden die klagsgegenständlichen Äußerungen getätigt (ausführlicher im Volltext der Entscheidung):

 

[Beklagter]: „Was [Sie/sie] machen, Herr [Zweitkläger], ist nichts anderes, was die Identitären auf der anderen Seite machen, nur [Ihre/ihre] Referenzen sind anders; [Ihre/ihre] Referenz ist Religion, bei den Identitären nur Rassismen, aber was [Sie/sie] als Hetze in dieser Gesellschaft betreiben, ist nichts anderes, was die Identitären in dieser Gesellschaft machen. Was [Sie/sie] in dieser Gesellschaft verursacht haben, [Sie/sie] tragen auch einen aktiven Beitrag für die Gewalt in dieser Gesellschaft. Durch [Ihre/ihre] Veröffentlichungen, durch [Ihre/ihre] Falschinformationen haben [Sie/sie] Österreich im Ausland degradiert. Sie unterzeichnen ein Dokument.“

 

Die in der Videodebatte thematisierte „Islamlandkarte“ ist ein vom Beklagten führend betreutes wissenschaftliches Forschungsprojekt. Die medialen Aktivitäten der Kläger richten sich mitunter gegen den Beklagten persönlich. Die Pressesprecherin des Erstklägers erklärte in einem Fernsehinterview in der „Zeit im Bild Nacht“, dass es nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung der „Islamlandkarte“ zu einer „Urinattacke“ auf eine Grazer Moschee gekommen sei. Tatsächlich hatte dieser Angriff am Tag davor stattgefunden. In einem Pressetext des Erstklägers wird behauptet, dem Beklagten mangle es an Qualifikationen und vor allem Basiskenntnissen der islamischen Theologie.

Die Kläger beantragten die Erlassung einer einstweiligen Verfügung und klagten u.a. auf Unterlassung. Dem Beklagten solle untersagt werden zu behaupten, die Kläger betrieben Hetze und/oder leisten einen aktiven Beitrag für die Gewalt in der Gesellschaft und/oder verbreite/ten Falschinformationen.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht wies den Sicherungsantrag ab. Die Formulierung des Beklagten sei von den Klägern als zulässige Meinungsäußerung hinzunehmen. Das Rekursgericht änderte die Entscheidung dahin ab, dass es dem Sicherungsantrag zur Gänze stattgab. Die in Rede stehenden Äußerungen des Beklagten könnten jedenfalls auch dahin verstanden werden, dass dieser den Zweitkläger, als Vertreter des Erstklägers, persönlich anspreche, sodass der Eindruck entstehe, der Beklagte werfe den Klägern – und nicht Muslimen im Allgemeinen – vor, Hetze zu betreiben und einen aktiven Beitrag für Gewalt in der Gesellschaft zu leisten.

Der dagegen gerichtete außerordentliche Revisionsrekurs des Beklagten befand der OGH für zulässig und berechtigt. Die Entscheidung des Erstgerichts wurde wiederhergestellt.

Beim Bedeutungsinhalt einer Äußerung kommt es immer auf den Gesamtzusammenhang und den dadurch vermittelten Gesamteindruck der beanstandeten Äußerungen an. Maßgeblich ist das Verständnis des unbefangenen Durchschnittslesers oder Durchschnittshörers, nicht aber der subjektive Wille des Erklärenden. Wer eine mehrdeutige Äußerung macht, muss zwar die für ihn ungünstigste Auslegung gegen sich gelten lassen, jedoch ist auch die Anwendung dieser Unklarheitenregel am Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung zu messen. Ausgehend davon verneinte der OGH eine Betroffenheit der Kläger in Ansehung der Behauptung der „Hetze“ und des „aktiven Beitrages für die Gewalt in dieser Gesellschaft“.

Die Äußerungen fielen im Zuge einer mündlichen (Online-)Debatte, die gerade dem Austausch kontroversieller Standpunkte zu einem Thema von öffentlichem Interesse dienen sollte. Aus dem Gesprächsverlauf ergibt sich, dass mit den Äußerungen des Beklagten zunächst die Gruppe der Muslime samt ihren politisch radikalisierten Mitgliedern insgesamt angesprochen war, nicht aber die Kläger. Die Äußerungen des Beklagten zur „Hetze“ und zum „aktiven Beitrag“ zur Gewalt schlossen an seine generellen Überlegungen zum verhältnismäßig schädlicheren Einfluss des Handelns von Muslimen auf die Gesellschaft im Vergleich zu jenem von Identitären an. Er stellte damit Personengruppen einander gegenüber. Erst ab den „Falschinformationen“ adressierte der Beklagte die Kläger.

Der Durchschnittsbetrachter verstand das Wort „sie“ im Zusammenhang mit dem Vorwurf der „Hetze“ und des „aktiven Beitrages für die Gewalt in dieser Gesellschaft“ in der dritten Person Mehrzahl und bezog daher diese Vorwürfe auf die Gruppe der Muslime samt ihren politisch radikalisierten Mitgliedern insgesamt.

Der Vorwurf der Verbreitung von „Falschinformation“ beruht wiederum auf einem wahren Tatsachenkern: Zwar besteht an der Verbreitung unwahrer rufschädigender Tatsachenbehauptungen oder von Wertungsexzessen kein von der Meinungsäußerungsfreiheit gedecktes Interesse. Allerdings müssen nicht nur Politiker, sondern auch Privatpersonen und Vereinigungen, sobald sie die politische Bühne betreten oder sich zu Themen allgemeinen Interesses öffentlich äußern, einen höheren Grad an Toleranz zeigen. Im Rahmen politischer Auseinandersetzung genügt bereits ein „dünnes Tatsachensubstrat“. Diesbezüglich ist dem Beklagten der Nachweis eines hinreichenden Tatsachensubstrats gelungen, indem er zu bescheinigen vermochte, dass eine Pressesprecherin des Erstklägers in einem Fernsehinterview wenige Tage vor der Online-Debatte objektiv unrichtig behauptet hatte, nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung der „Islamlandkarte“ sei es zu einer „Urinattacke“ auf eine Grazer Moschee gekommen. Die Bescheinigung noch einer weiteren objektiv unrichtigen Behauptung, weil der Beklagte im Zuge der Debatte von „Falschinformationen“ (im Plural) gesprochen hat, ist von ihm nicht zu fordern, zumal das Streitgespräch durchaus von Zwischenrufen und Unterbrechungen seitens des Zweitklägers geprägt war. Es liefe auf eine im Interesse des Persönlichkeitsschutzes der Kläger keineswegs gebotene Einschränkung des Rechts des Beklagten auf freie Meinungsäußerung hinaus, müsste dieser als Diskussionsteilnehmer in einer solchen hitzigen Gesprächssituation seine Worte derart präzise wählen, um nicht Ansprüchen nach § 1330 ABGB ausgesetzt zu sein. Den insoweit unscharfen Vorwurf der Verbreitung von Falschinformationen müssen die Kläger zur Vermeidung eines sonst drohenden „chilling effect“ hinnehmen.

 

Link zum Entscheidungstext

 

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