OGH-Entscheidung vom 6.3.2024, 7 Ob 7/24s

 

Sachverhalt:

Ein 15-Jähriger erlitt im Zuge der Teilnahme an einem Fahrsicherheitstraining einen Unfall, bei dem er sich eine Fraktur des Beines zuzog. Zum Unfallszeitpunkt bestand ein Unfallversicherungsvertrag mit dem Vater des Verletzten, dem die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen 2019 (AUVB 2019) zugrunde liegen und im Rahmen dessen der Sohn mitversichert war.

Die AUVB 2019 lauten auszugsweise: „Die versicherte Person hat als Lenker eines Kraftfahrzeuges die jeweilige kraftfahrrechtliche Berechtigung, die zum Lenken dieses oder eines typengleichen Kraftfahrzeuges erforderlich wäre, zu besitzen; dies gilt auch dann, wenn dieses Fahrzeug nicht auf Straßen mit öffentlichem Verkehr gelenkt wird […]

Die verwendeten Trial-Motorräder sind leistungsreduzierte Schulungsmotorräder. Sie sind ausschließlich für den Offroad-Bereich konzipiert. Der Sohn des Klägers verfügte nur über eine Lenkberechtigung für die Klasse AM, nicht aber über eine solche für Motorräder mit einem Hubraum von 125 Kubikzentimeter. Mit einem Trial-Motorrad mit einem Hubraum von 125 Kubikzentimeter nahm er am Fahrsicherheitstraining teil. Bei einem Sturz landete das auf seinem Fuß. Die durch den Sturz erlittene Unterschenkeldrehfraktur führte zu einer dauernden Invalidität, die 6 % des Beinwertes beträgt.

Der Kläger begehrte vom beklagten Unfallversicherer die Zahlung von EUR 5.571,25 an Versicherungsleistung.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Für das vom Sohn des Klägers benutzte Trial-Motorrad sei keine Lenkberechtigung erforderlich. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Rechtlich führte es aus, nach § 1 Abs 1a Z 3 FSG seien Kraftfahrzeuge, die bei einer kraftfahrsportlichen Veranstaltung und ihren Trainingsfahrten auf einer für den übrigen Verkehr gesperrten Straße verwendet würden, für die Dauer einer solchen Veranstaltung von der Anwendung der Bestimmungen des FSG ausdrücklich ausgenommen. Der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer verstehe die Führerscheinklausel dahin, dass er, um Versicherungsschutz zu genießen, zum Lenken eines Kraftfahrzeugs über die entsprechende Lenkberechtigung nach dem FSG verfügen müsse. Dass nach den Versicherungsbedingungen entgegen der in § 1 Abs 1a Z 3 FSG bei kraftfahrsportlichen Veranstaltungen bzw bei deren Trainingsfahrten normierten Ausnahme die Führerscheinklausel dennoch gelten solle, sei für den durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmer aber nicht erkennbar.

Der OGH gab der Revision der beklagten Versicherung Folge.

Die Beklagte begründet ihre Leistungsfreiheit mit der Verletzung der Obliegenheit nach Art 21.1.1 AUVB 2019 (auch als „Führerscheinklausel“ bezeichnet). Der Versicherer muss hier, der Versicherungsnehmer (Versicherte) wiederum mangelndes Verschulden bzw die mangelnde Kausalität.

Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung. Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers.

Nach Art 21.1.1 AUVB 2019 muss die versicherte Person als Lenker eines Kraftfahrzeugs die jeweilige kraftfahrrechtliche Berechtigung für das Lenken dieses oder eines typengleichen Fahrzeugs gehabt haben. Diese Führerscheinklausel hat auch für Fahrten auf nichtöffentlichem Grund Geltung, was ausdrücklich vereinbart ist. Sie zielt darauf ab, den Versicherer nicht dem höheren Risiko durch unerfahrene und ungeschulte Lenker auszusetzen. Die Führerscheinklausel stellt darauf ab, ob der Lenker eine (allgemeine) Fahrberechtigung und damit eine gewisse Fahrsicherheit hat, egal auf welcher Fläche er das Fahrzeug lenkt.

Der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer versteht die Führerscheinklausel dahin, dass er, um Versicherungsschutz zu genießen, zum Lenken eines Kraftfahrzeugs über die entsprechende Lenkberechtigung nach dem Führerscheingesetz (FSG) verfügen muss.

Zu berücksichtigen ist, dass bei Fahrten auf nichtöffentlichem Grund zwar keine Lenkberechtigung erforderlich ist, diese Fahrten aber dennoch von der Führerscheinklausel ausdrücklich erfasst sind. Das Fahrtechniktraining fand auf einem Gelände ohne Straßen mit öffentlichem Verkehr statt, was dem Erfordernis einer Lenkberechtigung nicht entgegensteht, sodass es auf die vom Berufungsgericht herangezogene Ausnahme

Der Sohn des Klägers fuhr mit einem Trial-Motorrad mit einem Hubraum von 125 Kubikzentimetern, für das er keine Lenkberechtigung besaß. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen kommt es nicht darauf an, dass das konkrete Trial-Motorrad nicht zulassungsfähig gewesen war, sondern darauf, dass es sich um ein von Art 21.1.1 AUVB 2019 erfasstes Kraftfahrzeug gehandelt hat. Da ein typengleiches Kraftfahrzeug wie das Trial-die Lenkberechtigung der Klasse A1 erforderlich wäre, hätte auch der Sohn des Klägers entsprechenddiese „kraftfahrrechtliche Berechtigung“ verfügen müssen.

Damit ist der Beklagten der Beweis der Verletzung der Obliegenheit nach Art 21.1.1 AUVB 2019 gelungen. Die vom Kläger eingewendete Unkenntnis der Versicherungsbedingungen spielt für das Verschulden keine Rolle.

Nach den Feststellungen konnte der Kläger den Kausalitätsgegenbeweis nicht erbringen. Der Sturz seines mitversicherten Sohnes mit dem Trial-Motorrad erfolgte infolge eines Fahrfehlers.

Das Klagebegehren wurde abgewiesen.

 

 

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