OGH-Entscheidung vom 27.4.2021, 10 ObS 15/21k

 

Sachverhalt:

Der Kläger ist als AHS-Lehrer tätig und arbeitet als Personalvertreter größtenteils eigenverantwortlich von zu Hause aus. Eine „Homeoffice-Vereinbarung“ wurde nicht abgeschlossen. Der Kläger wohnt in einem mehrstöckigen Haus, wobei sich sein Arbeitszimmer im 1. Stock befindet.

Am Unfalltag hatte der Kläger ein Beratungsgespräch mit einer Kollegin vereinbart. Überdies erwartete er einen dringenden dienstlichen Anruf eines Kollegen. As es an der Tür klingelte, verließ der Kläger sein Büro und ging hinunter zur Haustür, öffnete diese und empfing seine Kollegin. Unmittelbar nach der Begrüßung klingelte das Telefon im Büro im ersten Stock. Der Kläger lief die Treppe hinauf und verletzte sich dabei.

Die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter lehnte die Anerkennung des Vorfalls als Dienstunfall sowie die Gewährung einer Versehrtenrente ab.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht wies das auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls und die Gewährung einer Versehrtenrente gerichtete Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Der OGH befand die Revision des Klägers jedoch für zulässig und berechtigt.

Dienstunfälle sind Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit dem die Versicherung begründenden Dienstverhältnis oder mit der die Versicherung begründenden Funktion ereignen (§ 90 Abs 1 B-KUVG). § 91 Abs 1 Z 1 B-KUVG stellt Dienstunfällen die Unfälle gleich, die sich bei der Betätigung als Mitglied einer gesetzlichen Vertretung des Personals ereignen. Dementsprechende Regelungen finden sich auch in § 175 Abs 1 und § 176 Abs 1 Z 1 ASVG.

Ein Arbeitsweg ist nach der Rechtsprechung des OGH begrifflich ausgeschlossen, wenn die Wohnung der versicherten Person und ihre Arbeitsstätte im selben Gebäude liegen. Wenn sich in einem Haus neben nur dem betrieblichen Bereich und nur dem persönlichen Bereich zuzuordnenden Räumen auch „gemischt genutzte“ Räume befinden, beginnt der Unfallversicherungsschutz erst dann, wenn der rein persönliche Bereich verlassen und ein in wesentlichem Umfang betrieblichen oder beruflichen Zwecken dienender Teil des Wohngebäudes betreten wird. Gemischt genützte Räume im Inneren des Gebäudes (wie Treppen) zählen nur dann zu Betriebsräumlichkeiten, wenn sie im wesentlichen Umfang auch für betriebliche Zwecke genutzt werden. Entscheidend wäre daher gewesen, ob die Treppe überwiegend beruflich und nicht privat genutzt wurde. Angesichts kritischer Literatur, neuerer deutscher Rechtsprechung und der zunehmenden Bedeutung von Homeoffice, wollte der OGH die bisherige Rechtsprechung nicht aufrechterhalten.

Im vorliegenden Fall hat der Kläger von einer nach § 91 Abs 1 Z 1 B-KUVG unfallversicherungsrechtlich geschützten Tätigkeit zu einer nach § 90 Abs 1 B-KUVG geschützten dienstlichen Tätigkeit (Entgegennahme eines dienstlichen Telefonats im Arbeitszimmer) gewechselt. Die Fortbewegung über eine nicht überwiegend zu betrieblichen Zwecken benutzte Innentreppe des Wohngebäudes diente keinem privaten Zweck. Der OGH bejahte folglich einen Zusammenhang mit dem die Versicherung begründenden Dienstverhältnis im Sinn des § 90 Abs 1 B-KUVG und der Unfallversicherungsschutz nach dieser Bestimmung. Der Unfall des Klägers war ein Dienstunfall nach § 90 Abs 1 B-KUVG.

 

 

 

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