OGH-Entscheidung vom 14.12.2023, 2 Ob 208/23m

 

Sachverhalt:

Der Kläger war mit mehreren Freunden auf einer Mopedausfahrt. Einer der Teilnehmer war sein langjähriger bester Freund, mit dem ihn eine innige und enge Beziehung verband. Wegen eines technischen Problems stellten mehrere Teilnehmer der Gruppe ihre Mopeds außerhalb der Fahrbahn ab. Der Fahrer eines PKW geriet von der Fahrbahn ab und fuhr ungebremst in die Gruppe der Mopedfahrer, wodurch zwei Personen – darunter der beste Freund des Klägers – starben und mehrere weitere schwer verletzt wurden. Der Kläger beobachtete den gesamten Unfallhergang aus der Nähe und war „ein paar Sekunden“ nach dem Unfall bei den Verletzten, versuchte noch erste Hilfe zu leisten, konnte aber den Tod seinen besten Freundes noch an der Unfallstelle nicht verhindern. Das Miterleben des Unfalls versetzte den Kläger in einen schockartigen Zustand. Er erlitt eine akute Belastungsreaktion, die in eine posttraumatische Belastungsstörung überging. Beim Kläger stellte sich eine Persönlichkeitsveränderung ein, er leidet an Alpträumen und Flashbacks.

Der Kläger begehrt die Zahlung von EUR 5.000 an Schmerzengeld, EUR 2.685 an Verdienstentgang und EUR 100 an vorfallskausalen Spesen. Er sei beim Unfall zwar nicht physisch verletzt worden, habe aber direkt mitansehen müssen, wie sieben seiner Freunde schwer verletzt oder getötet worden seien. Er sei daher als Unfallbeteiligter und nicht bloß als Zeuge anzusehen.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit EUR 6.685  statt. Der Kläger könne Ersatz für den erlittenen Schockschaden begehren. Ein Schmerzengeld von EUR 4.080 sei angemessen. Das Unfallgeschehen sei für den Verdienstentgang kausal gewesen. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Der OGH gab der Revision der Beklagten nicht Folge.

Der Angehörigenbegriff muss nach der Rechtsprechung solche Personen erfassen, bei denen in der Rechtsordnung eine typische Verbindung mit der verstorbenen Person in einer Weise verankert ist, dass auch dem schädigenden Dritten gegenüber der Schockschaden als typische Folge seiner Verletzungshandlung gesehen werden kann. Auf dieser Grundlage wurden von der Rechtsprechung bisher Kinder und Eltern, Ehegatten, Lebensgefährten, Geschwister und zuletzt ein Stiefvater als nahe Angehörige angesehen.

Ein rein freundschaftliches Verhältnis, mag es auch von besonderer Intensität geprägt sein, ist in der Rechtsordnung nicht verankert. Der Senat hat ausgehend davon bereits ausgesprochen, dass eine Person, die mit dem Getöteten weder (nah) verwandt noch verheiratet noch deren Lebensgefährte war, nicht als naher Angehöriger anzusehen ist und daher keinen Anspruch auf Schmerzengeld wegen eines erlittenen Schockschadens hat.

An diesen Grundsätzen hielt der OGH fest. Die freundschaftliche und daher in der Rechtsordnung nicht in besonderer Weise anerkannte Beziehung zwischen dem Kläger und einem der beim Verkehrsunfall Getöteten reicht nicht zur Qualifikation der (besten) Freunde als nahe Angehörige aus.

Allerdings erhält der Kläger aufgrund seiner qualifiziert unmittelbaren Beteiligung am Verkehrsunfall ungeachtet seiner fehlenden Qualifikation als naher Angehöriger den von ihm erlittenen Schockschaden mit Krankheitswert ersetzt. Zwar kann der Kläger nicht als unmittelbar Unfallbeteiligter angesehen werden und war auch nicht in seiner eigenen körperlichen Sicherheit gefährdet. Er ist allerdings auch nicht als bloßer unbeteiligter Unfallzeuge anzusehen. Vielmehr ist von einer qualifizierten Beteiligung des Klägers am Unfallgeschehen auszugehen.

Die Zuerkennung eines Schockschadenersatzes an Dritte, die nicht als nahe Angehörige anzusehen sind, bedarf eines der rechtlichen Sonderbeziehung gleichwertigen Zurechnungsgrundes. Ein solcher muss nicht zwingend in der ganz unmittelbaren Involviertheit in das Unfallgeschehen (etwa als Unfallgegner oder Beifahrer) oder in der Gefährdung der eigenen körperlichen Sicherheit des Schockgeschädigten durch den Schädiger liegen. Erforderlich ist aber jedenfalls, dass der Dritte bei gebotener wertungsmäßiger Gesamtbetrachtung der Erstschädigung objektiv in gravierender Weise direkt ausgesetzt war („qualifizierte Unfallbeteiligung“).

 

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