OGH-Entscheidung vom 21.11.2023, 2 Ob 198/23s

 

Sachverhalt:

Die beiden Klägerinnen (Mutter und Tochter) befanden sich auf einem Sessellift, der von der Beklagten betrieben wird. Als der Wind stärker wurde entschied der diensthabende Betriebsleiter, diesen leer zu fahren. Aufgrund plötzlicher Wetterverschlechterung mit starken Sturmböen kam es zu starkem Schaukeln und mehreren Stillständen. Die Sicht war schlecht und die Klägerinnen begannen sich zu fürchten. Schließlich bildete sich auch Blitzeis an Seilbahnbestandteilen, das erst mit Bunsenbrennern entfernt werden musste. Nach einer etwa einstündigen Betriebsunterbrechung erreichten die Klägerinnen die Bergstation.

Die Klägerinnen begehrten die Zahlung von Schadenersatz und die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige, aus dem „Liftereignis“ resultierende Schäden. Neben Erfrierungen habe das Liftereignis zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht wies die Klage ab. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Der OGH gab jedoch der Revision der klagenden Parteien Folge und hob die Entscheidungen der Vorinstanzen auf.

Bei einem Beförderungsvertrag gilt die Verpflichtung, das körperliche Wohlbefinden des Beförderten nicht zu verletzen, als vertragliche Nebenverpflichtung. Der konkrete Inhalt einer vertraglichen Schutzpflicht hängt stets von den Umständen des Einzelfalls ab.

Grundlegender Anknüpfungspunkt für eine Haftung der Beklagten nach dem EKHG ist das Vorliegen eines für den Schaden ursächlichen Unfalls beim Betrieb der Sesselbahn. Beweispflichtig für das Vorliegen der haftungsbegründenden Tatbestandsmerkmale ist der Geschädigte.

Der Unfallbegriff des § 1 EKHG ist nicht mit der in den AVB privater Unfallversicherungen enthaltenen Definition gleichzusetzen. In der Unfallversicherung liegt bei einem Ereignis, das vom Versicherten bewusst und gewollt begonnen und beherrscht wurde, ein Unfall nur dann vor, wenn es sich dieser Beherrschung durch einen unerwarteten Ablauf entzogen und dann schädigend auf den Versicherten eingewirkt hat.

Im Gefährdungshaftungsrecht stellt beispielsweise das Moment des Unerwarteten oder Unentrinnbaren des Ereignisses kein Merkmal des Unfallbegriffs dar. Der Unfallbegriff ist vielmehr objektiv zu verstehen. Unter einem Unfall wird im Gefährdungshaftungsrecht ganz allgemein ein von außen her plötzlich einwirkendes schädigendes Ereignis verstanden. Eine physische Berührung mit dem Kraftfahrzeug oder eine (sonstige) mechanische Gewalteinwirkung ist nicht erforderlich. Diese Umstände des Falles (Temperaturabfall und die Blitzeisbildung) begründen nicht nur ein unmittelbar von außen her einwirkendes, sondern auch ein plötzliches Ereignis. Im Ergebnis liegt ein Unfall beim Betrieb der Sesselbahn vor.

Nach § 9 EKHG ist die Ersatzpflicht ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen der Seilbahn beruhte und der Halter sowie die mit seinem Willen beim Betrieb Tätigen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben. Die beklagte Seilbahnhalterin kann sich von ihrer Haftung daher nur dann befreien, wenn sie unter Beweis stellt, dass ein unabwendbares Ereignis vorliegt. Die Begriffe „Fehler in der Beschaffenheit“ und „Versagen der Verrichtungen“ umfassen im Wesentlichen technische Defekte.

Das auf die Bildung von Blitzeis zurückzuführende Einfrieren der Räder, das den langen Stillstand bewirkt hat, stellt ein Versagen der Verrichtung dar. Die Beklagte kann sich daher von vornherein nicht auf ein unabwendbares Ereignis berufen. Auf die Einhaltung der nach § 9 Abs 2 EKHG erforderlichen Sorgfalt oder das Vorliegen außergewöhnlicher Betriebsgefahr kommt es dann nämlich nicht mehr an.

Die Vorurteile wurde daher vom OGH aufgehoben und an die erste Instanz zurückverwiesen. Das Erstgericht wird das Verfahren zur Anspruchshöhe fortzusetzen haben.

 

Link zur Entscheidung

 

Weitere Blog-Beiträge zum Thema Unfall:

Neue OGH-Urteile zu den Grenzen privater Haftpflicht- und Unfallversicherungen

Treppensturz im Homeoffice = Dienstunfall

Schiunfall in „Fun Park“: Welche Sicherungspflichten treffen Pistenbetreiber?

OGH verneint Anspruch auf Trauerschmerzengeld bei unfallbedingtem Verlust eines Haustieres

Schiunfall auf Zeitmesstrecke: Riskante Fahrweise ist zu erwarten, Sorgfaltsanforderungen sind daher herabgesetzt

Reitpferd wird nach Unfall zu „Pflegefall“. OGH bejaht Haftung für zukünftige Schäden, denn auch Tiere ohne „wirtschaftlichen Wert“ dürfen leben und behandelt werden.

Kind verursacht Schiunfall. Wann haften Eltern für die Folgen? (Verletzung der Aufsichtspflicht)

BGH zur Verwertbarkeit von Dashcam-Aufnahmen als Beweismittel im Unfallhaftpflichtprozess

Medienbericht über Unfall eines Kindes: Mutter kann nicht rechtswirksam zur Veröffentlichung zustimmen

Durch Unfallnachricht ausgelöster Schockschaden: Schmerzengeld für nahe Angehörige bei schwersten Verletzungen des Unfallopfers

Arbeitsunfall in der Mittagspause „in der Nähe der Arbeitsstätte“ – erstmalige OGH-Rechtsprechung