EuGH-Urteil vom 4.12.2025, verbundene Rechtssachen C-580/23 und C-795/23
Sachverhalt:
Den beiden Ausgangsverfahren lagen Rechtsstreitigkeiten um die urheberrechtliche Schutzfähigkeit von Möbelstücken zugrunde. In der schwedischen Rechtssache C-580/23 stritten die Parteien über Esstische der Möbelserie Palais Royal, die von der Klägerin Asplund entworfen und produziert wurden. Asplund warf dem Möbelhändler Mio vor, mit dessen Esstischen aus der Serie Cord ihr Urheberrecht zu verletzen, da diese große Ähnlichkeit mit den Tischen der Serie Palais Royal aufwiesen.
In der deutschen Rechtssache C-795/23 ging es um das modulare Möbelsystem USM Haller, das seit Jahrzehnten von der Schweizer Firma USM produziert und vertrieben wird. Dieses System zeichnet sich durch hochglanzverchromte Rundrohre aus, die mittels kugelförmiger Verbindungsknoten zu einer Struktur zusammengesetzt werden, in die farbige Metallflächen eingesetzt werden können. Die deutsche Firma Konektra bot über ihren Online-Shop zunächst nur Ersatz- und Erweiterungsteile für das USM-Haller-System an. Ab 2017 gestaltete Konektra jedoch ihren Online-Shop neu und bot seither alle Komponenten an, die für den vollständigen Zusammenbau der USM-Haller-Möbel erforderlich sind. Zudem warb Konektra mit Bildern von zusammengebauten Möbeln und bot einen Montageservice an. USM sah darin eine Verletzung ihres Urheberrechts am USM-Haller-System als Werk der angewandten Kunst und verklagte Konektra auf Unterlassung, Auskunftserteilung und Schadensersatz.
Beide vorlegende Gerichte hatten Zweifel hinsichtlich der Auslegung der einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen zum urheberrechtlichen Schutz von Werken der angewandten Kunst und legten die Fälle dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Entscheidung:
Der EuGH stellt zunächst klar, dass der Begriff des „Werks“ im Sinne der Richtlinie 2001/29/EG ein unionsautonomer Begriff ist, der einheitlich auszulegen ist. Er knüpft an zwei kumulative Voraussetzungen an. Erstens muss der Gegenstand eine eigene geistige Schöpfung darstellen, deren Originalität darin liegt, dass der Gegenstand die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt. Zweitens muss sich diese geistige Schöpfung in einem hinreichend genau und objektiv identifizierbaren Gegenstand verkörpern. Entscheidend ist, dass freie und kreative Entscheidungen des Urhebers im Werk erkennbar zum Ausdruck kommen.
Der EuGH stellt außerdem klar, dass zwischen dem geschmacksmusterrechtlichen und dem urheberrechtlichen Schutz kein Regel-Ausnahme-Verhältnis besteht. Bei der Prüfung der Originalität von Gegenständen der angewandten Kunst sind keine höheren Anforderungen zu stellen als bei anderen Werkarten. Der Schutz von Geschmacksmustern und der urheberrechtliche Schutz verfolgen zwar verschiedene Ziele und unterliegen unterschiedlichen Regelungen, die Voraussetzungen für den urheberrechtlichen Schutz sind jedoch für alle Werkarten gleich. Die Originalität von Designobjekten ist daher nach denselben Maßstäben zu prüfen wie etwa bei Fotografien, Sprachwerken oder Musik. Ein als Geschmacksmuster geschütztes Design ist nicht automatisch ein urheberrechtlich geschütztes Werk; umgekehrt bleibt kumulativer Schutz möglich, sofern die Anforderungen beider Schutzregime erfüllt sind.
Zur Beurteilung der Originalität führt der EuGH aus, dass ein Gegenstand dann als Werk im Sinne der Richtlinie anzusehen ist, wenn er die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie und kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt. Nicht frei und kreativ sind Entscheidungsspielräume, die durch technische, funktionale, ergonomische oder sonstige Zwänge so stark determiniert sind, dass für wirkliche Gestaltung keine Freiheit verbleibt. Ebenso wenig genügen Entscheidungen, die zwar frei erscheinen, dem Gegenstand aber keinen erkennbar einzigartigen, von der Persönlichkeit des Urhebers geprägten Charakter verleihen. Die bloße Einhaltung von Trends oder das Aufgreifen von Formelementen aus einem allgemeinen Formenschatz reicht nicht aus, wenn sich im Ergebnis keine individuell geprägte Ausgestaltung erkennen lässt.
Gleichzeitig stellt der EuGH klar, dass weder die Verwendung von Elementen aus dem allgemeinen Formenschatz noch der Umstand, dass ein Objekt auf bereits bekannten Mustern oder einem Designtrend aufbaut, die Originalität zwingend ausschließt. Ein aus bekannten Formen komponierter Gegenstand kann originell sein, wenn in der konkreten Anordnung und Kombination dieser Formen die freien und kreativen Entscheidungen des Urhebers sichtbar werden. Auch Varianten oder Weiterentwicklungen bestehender Gestaltungen können originelle Werke sein, sofern sie eigene kreative Elemente enthalten. Dies gilt sowohl bei Varianten desselben Urhebers als auch bei abgeleiteten oder inspirierten Gestaltungen Dritter, solange die neuen schöpferischen Elemente identifizierbar sind.
Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die Absage des EuGH an eine Originalitätsprüfung, die maßgeblich am subjektiven Schaffensprozess ansetzt. Maßgeblich ist der Gegenstand selbst, nicht die innere Sicht des Gestalters. Der Schaffensprozess und die Absichten des Urhebers sind nur insoweit relevant, als sie im Werk objektivierbar zum Ausdruck kommen. Die Absichten des Urhebers, seine Erklärungen zum Entstehungsprozess, seine Inspirationsquellen oder seine bewussten kreativen Überlegungen können berücksichtigt werden, tragen die Originalitätsprüfung aber nicht, wenn sie im Werk keinen Niederschlag gefunden haben. Ebenso wenig sind äußere, erst nach der Schaffung eingetretene Umstände wie die Präsentation in Museen oder die Anerkennung in Fachkreisen entscheidend, auch wenn sie im Einzelfall ein Indiz für gestalterische Qualität sein können.
Zur Feststellung einer Urheberrechtsverletzung führt der EuGH aus, dass zu bestimmen ist, ob kreative Elemente des geschützten Werks wiedererkennbar in den als verletzend beanstandeten Gegenstand übernommen worden sind. Unerheblich sind der durch die beiden einander gegenüberstehenden Gegenstände erzeugte Gesamteindruck und die Gestaltungshöhe des Werks. Der Vergleich des Gesamteindrucks ist ein Kriterium des Geschmacksmusterrechts, nicht des Urheberrechts. Ein Gegenstand, der die Merkmale eines Werks aufweist, genießt urheberrechtlichen Schutz, dessen Umfang nicht vom Grad der schöpferischen Freiheit seines Urhebers abhängt. Die bloße Wahrscheinlichkeit einer unabhängigen ähnlichen Schöpfung kann eine Versagung des urheberrechtlichen Schutzes nicht rechtfertigen. Wird jedoch nachgewiesen, dass der angegriffene Gegenstand Ergebnis einer unabhängigen ähnlichen Schöpfung ist, liegt keine Urheberrechtsverletzung vor.
Die Originalitätsprüfung muss sich folglich auf den Gegenstand selbst konzentrieren und nicht primär auf den Schaffensprozess oder die Absichten des Urhebers. Gleichzeitig ist geklärt, dass für Werke der angewandten Kunst keine höheren Anforderungen gelten als für andere Werkarten, auch wenn bei der Beurteilung die Besonderheiten dieser Werkart, insbesondere die technischen, ergonomischen oder sicherheitsbezogenen Zwänge von Gebrauchsgegenständen, zu berücksichtigen sind.
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