EuGH-Urteil vom 2.3.2023, Rechtssache C‑684/21

 

Sachverhalt:

Die Sprick GmbH Bielefelder Papier- und Wellpappenwerk & Co. produziert Packpapierspender. Sie ist seit 2012 Inhaberin eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters betreffend ein „Packing Device“ (Verpackungsgerät):

Daneben ist Sprick Inhaberin sieben weiterer nahezu identischer bzw. hochgradig ähnlicher Geschmacksmuster.

Die Papierfabriek Doetinchem BV produziert und vertreibt ein Konkurrenzerzeugnis.

Sprick sah darin eine Verletzung ihres Gemeinschaftsgeschmacksmusters und erhob beim Landgericht Düsseldorf eine u.a. auf Unterlassung gerichtete Klage. Papierfabriek Doetinchem erhob Widerklage auf Nichtigerklärung dieses Geschmacksmusters mit der Begründung, dass alle seine Merkmale allein durch die technische Funktion des betreffenden Erzeugnisses bedingt seien. Das Landgericht Düsseldorf gab den Anträgen von Sprick statt und wies die Widerklage von Papierfabriek Doetinchem ab. Das Oberlandesgericht Düsseldorf beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.

 

Entscheidung:

Der EuGH wies zunächst darauf hin, dass der Begriff Geschmacksmuster in Art. 3 Buchst. a der Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung (Nr. 6/2002) als die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon definiert wird, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt. Somit ist die Erscheinungsform im Rahmen der in der Verordnung vorgesehenen Systematik das entscheidende Merkmal eines Geschmacksmusters.

Art. 8 Abs. 1 GGV soll verhindern, dass technologische Innovationen behindert werden und sieht folglich vor, dass ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht aus Erscheinungsmerkmalen besteht, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind. Sofern ein bestimmtes Erscheinungsmerkmal nur dazu da ist, um eine technische Funktion des betreffenden Erzeugnisses zu erfüllen, ist Schutz durch die GGV ausgeschlossen.

Auch die Existenz alternativer Geschmacksmuster kann die Anwendung von Art. 8 Abs. 1 nicht ausschließen. Denn wenn ein Wirtschaftsteilnehmer mehrere denkbare Formen eines Erzeugnisses als Gemeinschaftsgeschmacksmuster eintragen lässt, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingte Erscheinungsmerkmale aufweisen, ergäbe dies aus praktischer Sicht einen ausschließlichen Schutz, der einem Patentschutz gleichkäme. Zudem könnte dies seine Konkurrenten daran hindern, ein Erzeugnis mit bestimmten funktionellen Merkmalen anzubieten, oder es würde die möglichen technischen Lösungen einschränken. Daher ist das Bestehen alternativer Geschmacksmuster für die Anwendung dieser Bestimmung nicht ausschlaggebend. Das Gleiche gilt, wenn es sich um mehrere alternative Geschmacksmuster handelt, die der Inhaber des betreffenden Geschmacksmusters hat eintragen lassen.

Letztlich sprach der EuGH aus, dass Art. 8 Abs. 1 GGV dahin auszulegen ist, dass alle objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind; insbesondere diejenigen, die die Wahl dieser Merkmale leiten, das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, durch die sich diese technische Funktion erfüllen lässt, und den Umstand, dass der Inhaber des betreffenden Geschmacksmusters auch Inhaber einer Vielzahl alternativer Geschmacksmuster (wobei der zuletzt genannte Umstand nicht entscheidend ist).

Bei der Prüfung der Frage, ob die Erscheinungsform eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt ist, ist der Umstand, dass die Gestaltung dieses Erzeugnisses eine Mehrfarbigkeit zulässt, nicht zu berücksichtigen, wenn die Mehrfarbigkeit nicht aus der Eintragung des betreffenden Geschmacksmusters ersichtlich ist.

 

 

Link zum Entscheidungstext

 

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