EuGH-Urteil vom 4.10.2024, Rechtssache C‑633/22

 

Sachverhalt:

Dieser Fall betrifft die Anerkennung und Vollstreckung eines spanischen Urteils in Frankreich nach der (damals noch anwendbaren) Brüssel-I-Verordnung (EG) Nr. 44/2001.

Ausgangspunkt war ein Presseartikel in Le Monde vom 7. Dezember 2006. Darin wurde behauptet, Real Madrid und der FC Barcelona hätten die Dienste einer Person in Anspruch genommen, die als Drahtzieher eines Dopingnetzwerks im Radsport galt. Le Monde veröffentlichte am 23. Dezember 2006 eine Gegendarstellung von Real Madrid.

Real Madrid und ein Mitglied des medizinischen Teams klagten in Spanien wegen Verletzung der Ehre gegen den Verlag (Société Éditrice du Monde SA) und den Journalisten. Gericht erster Instanz in Madrid sprach mit Urteil vom 27. Februar 2009 Schmerzensgeld/immateriellen Schadenersatz zu (300.000 Euro an Real Madrid sowie 30.000 Euro an das Mitglied des medizinischen Teams),
ebenso die Urteilsveröffentlichung. Die Rechtsmittelinstanzen wiesen die Rechtsmittel ab. 2014 ordnete das erstinstanzliche Gericht die Vollstreckung (inkl. Zinsen und Kosten) an.

2018 erließ das Tribunal de grande instance de Paris zwei Vollstreckbarerklärungen (exequatur) für das spanische Urteil und die Beschlüsse. 2020 hob die Cour d’appel de Paris die Vollstreckbarerklärungen auf: Die spanischen Entscheidungen verstießen offensichtlich gegen den französischen internationalen ordre public, weil die zugesprochenen Beträge und Nebenfolgen eine abschreckende Wirkung (chilling effect) auf die Pressefreiheit hätten. Zur Begründung verwies das Berufungsgericht u.a. auf die Höhe der Beträge im Verhältnis zu den wirtschaftlichen Mitteln des Verlags, das Fehlen eines Vermögensschadens von Real Madrid und die in Frankreich üblichen Beträge bei Ehrverletzungen.

Real Madrid und das Mitglied des medizinischen Teams legten Kassationsbeschwerde ein. Die Cour de cassation legte den Fall dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

 

Entscheidung:

Der EuGH stellte in seinem Urteil klar, dass die Ordre-public-Klausel des Art 34 Abs 1 EuGVÜ (inhaltsgleich: Art 45 Abs 1 lit a EuGVVO 2012) zwar eng auszulegen ist und nur ausnahmsweise greift, sie jedoch die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats verpflichtet, die Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung zu versagen, wenn diese im Inland zu einer offensichtlichen Verletzung der Meinungs- und Pressefreiheit führte.

Diese Kontrolle ist aber nicht mit einer unzulässigen Nachprüfung der Sache zu verwechseln: Das Vollstreckungsgericht darf weder die Tatsachen- noch die Rechtswürdigung des Ursprungsgerichts ersetzen noch dessen Anwendung materiellen Rechts korrigieren; es hat ausschließlich zu prüfen, ob die Vollstreckung im eigenen Rechtsraum offenkundig unverhältnismäßig in die Pressefreiheit eingreift. Maßstab ist eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung, bei der insbesondere gefragt wird, ob die zugesprochene Entschädigung in Relation zur festgestellten Rufschädigung und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der verurteilten Personen eine „abschreckende Wirkung“ auf künftige Berichterstattung entfalten kann. Eine solche Wirkung kann selbst bei absolut gesehen moderaten Beträgen vorliegen, wenn sie im Verhältnis zu den vorhandenen Mitteln erheblich ins Gewicht fallen; zusätzlich sind Nebenfolgen (etwa Anordnungen zur Gegendarstellung, Richtigstellung, Entschuldigung sowie die Kostenlast) einzubeziehen.

Zwar darf das Vollstreckungsgericht zur Einordnung auch auf in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen übliche Entschädigungshöhen zurückgreifen; eine bloße Abweichung hiervon genügt jedoch nicht automatisch, um Unverhältnismäßigkeit anzunehmen.

Besondere Zurückhaltung ist geboten, wenn – wie hier – Fragen von allgemeinem Interesse betroffen sind, wozu der Berufssport und insbesondere Dopingthemen zählen, da die Presse in diesem Feld eine herausgehobene Wächterfunktion erfüllt.

Ergibt die Prüfung, dass die Vollstreckung eine offensichtliche Beeinträchtigung der Pressefreiheit bewirken würde, ist die Vollstreckung zu versagen; dies kann je nach Lage differenziert geschehen, indem die Versagung auf den offensichtlich unverhältnismäßigen Teil der zugesprochenen Beträge beschränkt oder zwischen den beteiligten Parteien unterschiedlich entschieden wird.

 

 

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