OGH-Entscheidung vom 25.10.2018, 6 Ob 124/18f

Sachverhalt:

Einem Landesrat wurde von der Universität der akademische Grad des Dr. aberkannt, nachdem sich Plagiatsvorwürfe als richtig herausgestellt hatten. In weiterer Folge trat der Landesrat auch als Obmann des Wirtschaftsbundes seines Bundeslandes zurück. Innerhalb des Wirtschaftsbundes erging, ausgehend vom Wirtschaftsbunddirektor, der Aufruf, sich mit dem Landesrat solidarisch zu zeigen und zu diesem Zweck einen an die Mitglieder des Wirtschaftsbundes gerichteten vorformulierten Brief zu unterzeichnen.

Auch der Kläger als Spartenobmann hätte diesen Brief unterzeichnen sollen. Er entschied sich jedoch dagegen und forderte stattdessen eine Sitzung, um die Vorwürfe gegen den Landesrat intern zu diskutieren und zu prüfen. Dies wurde abgelehnt. In weiterer Folge verfasste der Kläger einen Brief, den er allen Landesinnungsmeistern seiner Sparte zukommen ließ. Darin erklärte er, warum er den vom Wirtschaftsbund versandten Solidaritätsbrief nicht unterzeichnen wollte.

Eine Tageszeitung berichtete über die Causa und hielt unter anderem fest, dass von anderen Mitgliedern des Wirtschaftsbundes nun der Rücktritt des Klägers gefordert werde. Unter anderem schrieb der Journalist: „Seit er sich allerdings in den Medien für den Rücktritt von […] stark gemacht hat, ist er überhaupt Persona non grata, Verräter, Aussätziger, Judas – alles Original-Töne von WK-Fuktionären – in einer Person.“

Der Kläger, der vom Journalisten zu dieser Sache nicht befragt wurde, beantragte die Erlassung einer einstweiligen Verfügung. Dem Journalisten und der Tageszeitung solle die Verbreitung der angeblichen Äußerung, er sei ein „Judas“, verboten werden. Dies sei ehrenrührig und kreditschädigend.

Entscheidung:

Erst- und Rekursgericht gaben dem Antrag Folge. Das Rekursgericht führte aus, dass der Begriff „Judas“ ein Werturteil sei. Unter diesem Begriff verstehe man im allgemeinen Sprachgebrauch jemanden, der treulos an jemandem handle, ihn verrate, was ua mit den Bezeichnungen „Verräter, (Ver)Naderer“ gleichgesetzt werde. Jemanden als „Judas“ zu bezeichnen, sei ehrenrührig. Solange bei wertenden Äußerungen die Grenzen zulässiger Kritik nicht überschritten würden, also kein Wertungsexzess vorliege, sei auch bei massiver, in die Ehre eines anderen eingreifender Kritik insbesondere zu beachten, ob sie sich an konkreten Fakten orientiere, sie also zumindest auf einem wahren Tatsachenkern beruhe. Ob ein Wertungsexzess vorliege, könne aber dahingestellt bleiben. Das Besondere des vorliegenden Falls sei nämlich, dass die Beklagten gar nicht selbst die Wertung vorgenommen hätten, der Kläger sei aufgrund seines in Rede stehenden Verhaltens als „Judas“ zu bezeichnen. Nur dann, wenn sie solches als ihre eigene Meinung artikuliert hätten, wäre deren Deckung durch die Meinungsfreiheit zu erörtern; sie hätten vielmehr die Bezeichnung des Klägers als „Judas“ als Zitate nicht genannter Dritter ausgegeben. Es stehe aber nicht einmal fest, dass es sich tatsächlich um Zitate handle. Dem Persönlichkeitsinteresse des Klägers auf Wahrung seiner Ehre stehe daher kein erkennbares Interesse der Beklagten daran gegenüber, die nicht bescheinigten ehrenrührigen Zitate zu verbreiten.

Der OGH schloss sich dieser Entscheidung nicht an. Aus der Begründung:

Bei der Abgrenzung zwischen übler Nachrede und Ehrenbeleidigung einerseits und zulässiger Kritik bzw Werturteil andererseits ist auch eine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei auf das Recht der freien Meinungsäußerung Bedacht genommen werden muss. Solange bei wertenden Äußerungen die Grenzen zulässiger Kritik nicht überschritten werden, kann auch massive, in die Ehre eines anderen eingreifende Kritik, die sich an konkreten Fakten orientiert, zulässig sein.

Auf unwahren bzw nicht hinreichenden Tatsachenbehauptungen beruhende negative Werturteile oder Wertungsexzesse fallen nicht unter den Schutzbereich des Art 10 MRK und sind daher nicht zulässig. Angesichts der heutigen Reizüberflutung sind aber selbst überspitzte Formulierungen unter Umständen hinzunehmen, soweit kein massiver Wertungsexzess vorliegt.

Die Grenzen der zulässigen Kritik sind bei Politikern und generell bei Personen des öffentlichen Lebens weiter zu ziehen als bei Privatpersonen. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist großzügig auszulegen, wenn es um zur Debatte stehende politische Verhaltensweisen geht. Weil Politiker erhöhter Kritik unterworfen sind, soweit sie in öffentlicher Funktion handeln, genügt im Rahmen politischer Auseinandersetzung bereits ein „dünnes Tatsachensubstrat“ für die Zulässigkeit einer Wertung.

Der Schutz journalistischer Quellen ist ein Eckpfeiler der Pressefreiheit. Journalisten sind nicht verpflichtet, sich systematisch und förmlich vom Inhalt eines Zitats zu distanzieren, das andere beleidigen oder provozieren oder ihren guten Ruf schädigen könnte, da eine solche Verpflichtung mit der Aufgabe der Presse, Informationen über laufende Ereignisse, Meinungen und Ideen zu verbreiten, nicht zu vereinbaren wäre.

Im vorliegenden Fall fiel die inkriminierte Äußerung im Zusammenhang mit einer offen gelegten und als im Tatsachenkern zutreffenden Sachverhaltsgrundlage, nämlich dass der Kläger den Rücktritt des Landesrats gefordert hat. Dem durchschnittlichen Leser wird durch diesen Artikel vor Augen geführt, dass diese „Causa“ innerhalb der Wirtschaftskammer differenziert beurteilt wird, wobei der Kläger das Fehlverhalten des Landesrats klar verurteilt, während die andere Seite sich verpflichtet fühlt, Solidarität zu zeigen.

Der OGH kam schließlich zu dem Ergebnis, dass der Journalist nicht seine eigene Meinung wiedergegeben hat, sondern (auch bei der Verwendung der inkriminierten Äußerung) die Stimmungslage in der Causa beschrieb. Dabei handelt es sich um eine der Meinungsäußerungsfreiheit unterliegende journalistische Tätigkeit. Ein Wertungsexzess ist nicht gegeben. Ob ein korrektes Zitat vorliegt, war unter diesem Gesichtspunkt für den OGH nicht entscheidend. Das Sicherungsbegehren war demzufolge nicht berechtigt.