OGH-Entscheidung vom 18.2.2021, 6 Ob 212/20z

 

Sachverhalt:

Die Tochter sowie beide Enkelkinder der Klägerin wurden (vom Vater der Kinder bzw. Ehemann der Tochter) ermordet. Die Medieninhaberin einer Tageszeitung sowie einer Nachrichten-Website veröffentlichte mehrere Artikel, in denen über den Mordfall berichtet wurde. In den Artikeln wurden Lichtbilder der Wohnstraße und des Einfamilienhauses der Mordopfer veröffentlicht und der Vorname der ermordeten Tochter der Klägerin sowie der Vorname und die Initiale des Familiennamens deren Ehemanns genannt.

Der Verfasser der Artikel nahm unmittelbar nach der Tat Kontakt mit der damaligen Rechtsvertreterin der Opfer und der Klägerin auf, die ihm die Namen der Mordopfer bekanntgab und ihm mitteilte, dass der Täter kurz vor der Tat auch gegenüber der Schwester seiner Frau gewalttätig geworden sei, seine Frau große Angst vor ihrem Mann gehabt habe und sie offensichtlich unter großem Druck gestanden sei. Sie habe sich nach der Geburt der Kinder in eine eingeschüchterte Person mit Kopftuch und langen Gewändern entwickelt. In einer Pressekonferenz wurde die Art der Tatausführung bekanntgegeben sowie woran die Opfer starben; außerdem, dass das Motiv der Tat in Beziehungsproblemen liegen dürfte.

Die Klägerin beantragte die Erlassung einer einstweilige Verfügung, wonach der Beklagten untersagt werden solle, identifizierende Angaben über die Opfer zu verbreiten.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht erließ die beantragte einstweilige Verfügung. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Der OGH erachtete den Revisionsrekurs der Beklagten jedoch für zulässig und berechtigt.

Im vorliegenden Fall waren die (postmortalen) Persönlichkeitsinteressen der Mordopfer gegen das Informationsinteresse der Öffentlichkeit sowie die Meinungs- und Pressefreiheit abzuwägen. (Siehe weiterführende Entscheidungen HIER und HIER im Blog.) Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Fotos und Artikeln ist nach der Rechtsprechung des EGMR danach zu unterscheiden, ob die Veröffentlichungen nur die Neugier eines bestimmten Publikums im Hinblick auf Einzelheiten aus dem Privatleben einer bekannten Person befriedigen sollen, oder ob sie als Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse angesehen werden können.

Die Interessenabwägung muss zugunsten der Berichterstattung ausfallen, wenn nicht überwiegende Gründe deutlich dagegensprechen. Zudem muss dem Handelnden beim Verfassen des Artikels erkennbar sein, ob seine Berichterstattung zulässig ist oder nicht. Die Furcht vor Inanspruchnahme aufgrund nicht ausreichend klar konturierter (hier: postmortaler) Persönlichkeitsrechte könnte – im Sinne eines „chilling effect“ – die Funktion der Presse beeinträchtigen.

Bei der Geltendmachung von Ansprüchen aufgrund der Verletzung von postmortalen Persönlichkeitsrechten im Sinne des § 78 UrhG durch einen nahen Angehörigen kommt es auf dessen Interessen an. Diese Interessen sind im Regelfall schon dann beeinträchtigt, wenn die Interessenabwägung zu Lebzeiten des Betroffenen zu dessen Gunsten ausgegangen wäre, da die Geltendmachung derartiger Ansprüche durch Angehörige auch der Wahrung der Interessen des Verstorbenen dient. (Siehe weiterführende Entscheidungen HIER und HIER im Blog.)

Nach der herrschenden Rechtsprechung zu § 78 UrhG (Recht am eigenen Bild) ist eine Interessenabwägung zwischen dem Persönlichkeitsschutz des Abgebildeten und dem Veröffentlichungsinteresse des Mediums als Ausfluss der freien Meinungsäußerung vorzunehmen. Die Bestimmungen der §§ 7a ff MedienG und des § 7 MedienG sind ebenfalls zu berücksichtigen. Dabei ist der höchstpersönliche Lebensbereich (Kernbereich der geschützten Privatsphäre: Gesundheit, Sexualleben, Familienleben) einer den Eingriff rechtfertigenden Interessenabwägung regelmäßig nicht zugänglich. Im vorliegenden Fall können die Bestimmungen zum Identitätsschutz des Mediengesetzes jedoch nicht unmittelbar angewendet werden, weil diese nicht postmortal geltend gemacht werden können.

Allerdings kann das Recht auf Ehre auch nach dem Tod als sogenanntes postmortales Persönlichkeitsrecht geschützt sein. Im Rahmen des Schutzes seiner Ehre ist der Verstorbene nur davor geschützt, dass sein Lebensbild nicht nachhaltig in grober Weise negativ entstellt wird. Damit ist aber ein Mindestschutz, nicht der Gesamtumfang des Schutzes angesprochen.

Der wahrheitsgemäße Bericht über Umstände und Hintergründe eines Mordes ist grundsätzlich zweifellos als zulässig zu betrachten. Die erlittenen Verletzungen und das Motiv für ein derartig massives Strafdelikt sind wesentliche Elemente für den Ablauf bzw die Erklärung der Tat. Die Beschreibung dieser Umstände ist daher in der Regel vom Interesse der Allgemeinheit, über laufende Strafverfahren informiert zu werden, umfasst. Die bloße Identifizierung als Mordopfer ist nicht mit einer Bloßstellung verbunden. Zu Lebzeiten einer Person liegt ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte bereits darin, dass der Einzelne gezwungen wird, sich mit öffentlicher Neugierde, unerwünschter Anteilnahme oder ungebetenem Mitleid in einer Angelegenheit seiner Privatsphäre auseinanderzusetzen. Diese Wirkung kann aber aufgrund des Ablebens der drei Mordopfer im vorliegenden Fall nicht mehr eintreten. Die Interessenabwägung fiel daher zugunsten der Berichterstattung der Beklagten aus und der Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung wurde abgewiesen.

 

Link zum Entscheidungstext

 

Weitere Beiträge zum postmortalen Persönlichkeitsrecht:

Identifizierende Berichterstattung über Mordopfer verletzt auch nach dessen Tod höchstpersönlichen Lebensbereich

Ersatz immaterieller Schäden aus einer postmortalen Persönlichkeitsrechtsverletzung?

Kein Anspruch Angehöriger auf immateriellen Schadenersatz wegen postmortaler Persönlichkeitsrechtsverletzung

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