EuGH-Urteil vom 15.3.2022, Rechtssache C‑302/20

 

Sachverhalt:

Ein britischer Journalist schrieb zwei Artikel in denen Gerüchte im Aktienmarkt aufgegriffen wurden. Die Artikel betrafen Wertpapiere, die zum Handel auf Euronext zugelassen waren.

Im ersten Artikel wurde ein mögliches öffentliches Erwerbsangebot des Unternehmens LVMH für die Wertpapiere von Hermès erwähnt. Am Tag nach dieser Veröffentlichung stieg dieser Kurs. Im zweiten Artikel hieß es, die Wertpapiere von Maurel & Prom könnten bald Gegenstand eines öffentlichen Erwerbsangebots sein. Am Tag danach wurde auch ein Anstieg des Kurses dieser Aktien verzeichnet.

Eine Untersuchung durch die französische Finanzmarktaufsichtsbehörde (AMF) ergab, dass kurz vor der Veröffentlichung Kaufaufträge für Wertpapiere von Hermès und von Maurel & Prom von im Vereinigten Königreich ansässigen Personen erteilt worden waren und diese ihre Positionen aufgelöst hatten, sobald die Veröffentlichung erfolgt war. Die AMF verhängte gegen den Journalisten eine Geldbuße in Höhe von 40.000 Euro, weil er die bevorstehende Veröffentlichung der Artikel an diese in Großbritannien ansässigen Personen weitergegeben und ihnen damit „Insiderinformationen“ offengelegt habe.

Das Berufungsgericht Paris hat den EuGH um Vorabentscheidung über die Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften über Insidergeschäfte ersucht; konkret ging um die Frage, ob eine Information über die bevorstehende Veröffentlichung eines Presseartikels, in dem ein Marktgerücht aufgegriffen wird, als Insiderinformation angesehen werden kann, die unter das Verbot der Offenlegung solcher Informationen fällt. Ebenso, ob es Ausnahmen von diesem Verbot im besonderen Kontext journalistischer Tätigkeit gibt.

 

Entscheidung:

Der EuGH wies zunächst darauf hin, dass die Definition des Begriffs „Insiderinformation“ aus vier wesentlichen Tatbestandsmerkmalen besteht. Erstens handelt es sich um eine präzise Information. Zweitens ist diese Information nicht öffentlich bekannt. Drittens betrifft sie direkt oder indirekt ein oder mehrere Finanzinstrumente oder deren Emittenten. Viertens wäre sie, wenn sie öffentlich bekannt würde, geeignet, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs sich darauf beziehender derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen.

Eine Information ist dann als „präzise“ anzusehen, wenn sie zwei Voraussetzungen erfüllt. Zum einen muss damit eine Reihe von Umständen gemeint sein, die bereits existieren oder bei denen man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft existieren werden, oder ein Ereignis, das bereits eingetreten ist oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten wird. Zum anderen muss diese Information darüber hinaus spezifisch genug sein, um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf die Kurse von Finanzinstrumenten zuzulassen.

Der EuGH kam schließlich zu dem Ergebnis, dass es sich – für die Einstufung als Insiderinformation – um eine „präzise“ Information handeln kann, wenn in dem Presseartikel sowohl der gebotene Preis für die Wertpapiere, als auch die Identität des Journalisten sowie des veröffentlichenden Presseorgans genannt werden.

Die Weitergabe von Insiderinformationen für journalistische Zwecke kann nach dem Unionsrecht im Rahmen der Pressefreiheit und der freien Meinungsäußerung gerechtfertigt sein. Die journalistischen Zwecke können Untersuchungstätigkeiten umfassen, die ein Journalist im Vorfeld der Veröffentlichung vornimmt, um den Wahrheitsgehalt der Gerüchte zu überprüfen.

Die Offenlegung einer Insiderinformation durch einen Journalisten ist jedoch nur rechtmäßig, wenn sie für die Ausübung seines Berufs erforderlich ist und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Dies hat nun das Berufungsgericht in Paris zu prüfen.

 

 

 

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