EuGH-Urteil vom 4.9.2025, Rechtssache C‑211/24

 

Sachverhalt:

Die LEGO A/S ist Inhaberin zweier eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster für Bauteile eines modularen Bauspielzeugs:

Ein ungarisches Unternehmen versuchte, unter der Marke „Qman“ kompatible Klemmbaustein-Sets nach Ungarn einzuführen:

Nach einer Beschwerde von LEGO wurden die Waren von der ungarischen Zollbehörde beschlagnahmt; LEGO beantragte eine einstweilige Anordnung zur Aufrechterhaltung der Beschlagnahme.

Das erstinstanzlich zuständige Gericht in Ungarn lehnte ab. Zwar seien die LEGO-Muster nach Art 8 Abs 3 GGV grundsätzlich schutzfähig, die Form sei aber technisch bedingt und die Gestaltungsfreiheit stark eingeschränkt; im Vergleich ergebe sich für den „informierten Benutzer“ ein anderer Gesamteindruck.

Die Rechtsmittelinstanz hob die Entscheidung auf: Der informierte Benutzer betrachte nicht mit technischer Akribie; die Qman-Teile vermittelten keinen anderen Gesamteindruck.

Im Verletzungsverfahren legte das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) dem EuGH das Verfahren zur Vorabentscheidung vor.

 

Entscheidung:

Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass der Schutzumfang von nach Art 8 Abs 3 GGV geschützten Geschmacksmustern (also Verbindungsteilen innerhalb modularer Systeme) nach Art 10 GGV am visuellen Gesamteindruck beim informierten Benutzer zu messen ist. Dieser ist ein erfahrener, besonders aufmerksamer Nutzer des betreffenden Produktbereichs, jedoch weder Entwerfer noch technischer Sachverständiger. Eine technische Detailanalyse oder ein prüfender Blick „wie ein Fachmann“ ist nicht maßgeblich.

Der Gesamteindruck knüpft an die Erscheinungsform an; bei der Beurteilung ist der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers einzubeziehen: Je stärker diese durch funktionale Zwänge reduziert ist, desto eher können kleine Unterschiede zu einem anderen Gesamteindruck führen – und umgekehrt.

Speziell für Art 8 Abs 3 gilt zudem, dass die Verbindungsstellen selbst (Form und Abmessungen) in die Gesamteindrucksprüfung einzubeziehen sind. Weisen sich die einander gegenüberstehenden Teile hier dieselben Formen und Maße auf und fehlen sonst hinreichend wesentliche Abweichungen im Gesamterscheinungsbild, spricht dies gegen einen anderen Gesamteindruck. Damit wahrt der EuGH den Schutz innovativer Kopplungsgeometrien, ohne Wettbewerbern zu verwehren, durch abweichende Verbindungsgestaltungen einen anderen Gesamteindruck zu schaffen.

Hinsichtlich der Sanktionen nach Art 89 Abs 1 GGV legt der EuGH den Begriff der „guten Gründe“ als unionsweit einheitliche und eng auszulegende Ausnahme aus, die nur außergewöhnliche Umstände des Einzelfalls erfasst. Der bloße Umstand, dass sich die Verletzung nur auf wenige Teile eines großen Sets bezieht, genügt hierfür nicht. Ein nationales Gericht darf daher nicht allein wegen des relativ geringen Anteils verletzender Komponenten von Verbots-, Beschlagnahme- oder sonstigen Anordnungen absehen.

 

 

Link zur Entscheidung

 

Weitere Blog-Beiträge zum Thema Geschmacksmuster/Designs:

Technisch, aber schutzfähig: EuG zur Eigenart eines Profilstabs.

OGH zur Nachahmung von Heizsocken. Kein Schutz für technisch bedingte Merkmale.

BGH: Kein Urheberrechtsschutz für Birkenstock-Sandalen.

Das neue EU-Designrecht

EuG zur Nichtigkeit unschlüssig und widersprüchlich dargestellter Geschmacksmuster.

Kleine runde weiße Scheibe als Formmarke für Glukoseüberwachungsystem schutzfähig? Bei schwachen Zeichen genügen bereits geringe Abweichungen um Verwechslungsgefahr zu verneinen.

EuGH zur Frage ob Werke der angewandten Kunst aus Drittstaaten („Dining Sidechair Wood“) durch das Unionsrecht geschützt werden.

Popstar Rihanna zeigt Puma-Schuhe auf Instagram: EuG erklärt später eingetragenes Geschmacksmuster für nichtig.

EuGH zu technischen Funktionen von Gemeinschaftsgeschmacksmustern. Mehr Schutz durch Vielzahl von Anmeldungen in verschiedenen Formen?

Lampen-Modelle: Verletzung von Geschmacksmuster durch Übernahme prägender Design-Bestandteile.

Geschmacksmuster für Heizsocken: Ausschließlich technisch bedingten Merkmalen darf kein Geschmacksmusterschutz gewährt werden

Geschmacksmuster: Geringe Eigenart = kleiner Schutzumfang

Internationale Zuständigkeit: Welches Gericht ist bei einer drohenden Verletzung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters durch ein ausländisches Unternehmen zuständig?

Wie wird die Höhe des herauszugebenden Verletzergewinns bei einer Geschmacksmusterverletzung bestimmt?