BGH-Urteil vom 16. Mai 2023 – VI ZR 116/22

 

 

Sachverhalt:

Der Kläger ist Bankier. Die deutsche Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung. Die Tagebücher des Klägers wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beschlagnahmt. Die Beklagte veröffentlichte auf der von ihr betriebenen Internetseite www.sueddeutsche.de etwa 2 Jahre später einen Artikel, der sich mit einer möglichen Einflussnahme der Hamburger Politik auf Entscheidungen der Finanzbehörden. Die Beklagte zitierte in diesem Artikel wörtlich aus den Tagebüchern, deren Inhalt ihr nach der Beschlagnahme bekannt geworden ist. Der in dem Artikel behandelte Verdacht ist Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Hamburg.

 

Entscheidung:

Der deutsche BGH entschied nun, dass private Tagebuchaufzeichnungen, die von den Strafverfolgungsbehörden beschlagnahmt worden sind, keine „amtlichen Dokumente“ des Strafverfahrens darstellen. Die Revision der Beklagten war insofern erfolgreich. Der BGH hob das durch das Landgericht ausgesprochene Verbot der wörtlichen Wiedergabe von Tagebuchauszügen auf. Dem Kläger steht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt (weder zivilrechtlich noch strafrechtlich) ein Anspruch auf Unterlassung der wörtlichen Wiedergabe der beanstandeten Textpassagen aus seinen Tagebüchern zu.

Bei den privaten Tagebuchaufzeichnungen des Klägers, die aufgrund eines von der Staatsanwaltschaft erwirkten Durchsuchungsbeschlusses beschlagnahmt wurden, handelt es sich nicht um „amtliche Dokumente“ des Strafverfahrens. In Hinblick auf die Gewährleistungen in Art. 5 Abs. 1 dGG, Art. 10 EMRK und Art. 103 Abs. 2 dGG verbietet sich ein weites Begriffsverständnis. Die Bestimmung erfasst daher nicht die Aufzeichnungen privater Urheber. Derartige Aufzeichnungen verwandeln sich nicht dadurch in amtliche Dokumente, dass sie von den Strafverfolgungsbehörden beschlagnahmt worden sind oder in sonstiger Weise zu Zwecken des Verfahrens in den Gewahrsam einer daran mitwirkenden Behörde gelangen. Hätte der Gesetzgeber auch Dokumente privater Urheber dem Tatbestand des § 353d Nr. 3 dStGB unterstellen wollen, so hätte er dies durch die Bezeichnung „amtlich verwahrte Dokumente“ klar zum Ausdruck bringen können und müssen.

Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch ergibt sich auch nicht aus den einschlägigen zivilrechtlichen Bestimmungen des dBGB. Zwar berührt die wortlautgetreue Wiedergabe von Auszügen aus den Tagebüchern des Klägers sein allgemeines Persönlichkeitsrecht in den Ausprägungen der Vertraulichkeitssphäre und des sozialen Geltungsanspruchs. Die Beeinträchtigung der Vertraulichkeitssphäre und des sozialen Geltungsanspruchs des Klägers ist aber nicht rechtswidrig. Das von der Beklagten verfolgte Informationsinteresse der Öffentlichkeit und ihr Recht auf Meinungs- und Medienfreiheit überwiegen das Interesse des Klägers am Schutz seiner Persönlichkeit. Die Rechte des Klägers sind durch wörtliche Wiedergabe seiner Tagebuchaufzeichnungen nur in verhältnismäßig geringem Maß beeinträchtigt worden. Demgegenüber kommt dem Grundrecht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit im Streitfall ein besonders hohes Gewicht zu. Mit der wortlautgetreuen Wiedergabe der Tagebuchaufzeichnungen hat die Beklagte einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit in höchstem Maße berührenden Frage geleistet, die auch Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Hamburg ist. Das überragende Informationsinteresse der Öffentlichkeit erstreckt sich auch auf die Wiedergabe der Tagebuchaufzeichnungen im Wortlaut. Den wörtlichen Zitaten kommt ein besonderer Dokumentationswert im Rahmen der Berichterstattung zu.

 

 

Link zum Entscheidungstext

Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 16.5.2023

 

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