OGH-Entscheidung vom 30.5.2022, 2 Ob 68/22x

 

Sachverhalt:

Ein 2019 verstorbener Mann hinterließ mehrere Erben, darunter seine Witwe. Der Verstorbene war an drei Unternehmen beteiligt. Besprechungen über eine mögliche Erbteilung mit den Erben scheiterten. Ein eingeholtes Sachverständigengutachten ergab einen bestimmten Unternehmenswert, den die Witwe als zu gering erachtete. Der Kollisionskurator und der bestellte Verlassenschaftskurator verweigerten jedoch die Herausgabe der von der Witwe geforderten Planbilanzen/Prognoserechnung unter Hinweis darauf, diese seien als Geschäftsgeheimnisse anzusehen. Die Witwe beantragte folglich vor Gericht, ihr Einsicht in den gesamten Verlassenschaftsakt zu gewähren.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht gewährte der Witwe zwar Einsicht in den Verlassenschaftsakt, nahm davon jedoch die für sie relevanten Unterlagen aus. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Der OGH befand den dagegen gerichteten Revisionsrekurs der Witwe für zulässig und auch berechtigt.

Gemäß § 219 Abs 1 ZPO können die Parteien in sämtliche ihre Rechtssache betreffenden, bei Gericht befindlichen Akten (Prozessakten) mit Ausnahme der Entwürfe zu Urteilen und Beschlüssen, der Protokolle über Beratungen und Abstimmungen des Gerichts und solcher Schriftstücke, welche Disziplinarverfügungen enthalten, Einsicht nehmen und sich davon auf ihre Kosten Kopien und Ausdrucke anfertigen lassen. Nach ständiger Rechtsprechung wird der potenzielle Erbe mit der Abgabe seiner Erbantrittserklärung Partei des Verlassenschaftsverfahrens. Die Parteistellung der Witwe lag daher unzweifelhaft vor. Auch das durch Art 6 MRK geschützte Grundrecht des fair trial macht eine generelle Verweigerung des Rechts auf Akteneinsicht unzulässig. Beschränkungen dieses Rechts sind nur in sehr geringem Umfang möglich. Die Vorinstanzen erblickten allerdings in § 26h Abs 2 UWG eine solche sondergesetzliche Ausnahme. § 26h Abs 2 UWG lautet:

„Das Gericht hat auf Antrag oder von Amts wegen Maßnahmen zu treffen, dass der Verfahrensgegner und Dritte keine Informationen über das Geschäftsgeheimnis erhalten, welche über ihren bisherigen diesbezüglichen Wissensstand hinausgehen. Die allenfalls zu treffenden Maßnahmen können auch umfassen, dass die Offenlegung des behaupteten Geschäftsgeheimnisses nur gegenüber einem vom Gericht bestellten Sachverständigen erfolgt. Der bestellte Sachverständige ist anzuweisen, dem Gericht eine Zusammenfassung vorzulegen, die keine vertraulichen Informationen über das Geschäftsgeheimnis enthält. Darüber hinaus hat er dem Gericht zur Beurteilung sämtliche Unterlagen, den Befund und das Gutachten zu den Geschäftsgeheimnissen vorzulegen und Geschäftsgeheimnisse als solche zu kennzeichnen. Diese Aktenbestandteile sind vom Recht auf Akteneinsicht ausgenommen. Das Gericht hat unbeschadet des Abs. 3 diese schriftlichen Aufzeichnungen über ein Geschäftsgeheimnis in einem gesonderten Aktenteil zu verwahren, der weder dem Verfahrensgegner noch Dritten zugänglich ist.“

Die Bestimmung dient der Umsetzung des Art 9 der Richtlinie (EU) 2016/943 über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung und soll spezielle verfahrensrechtliche Bestimmungen über den Schutz von Geschäftsgeheimnissen sowohl des Klägers als auch des Beklagten regeln.

Bei der Auslegung der nationalen Vorschrift haben sich die Gerichte so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie zu orientieren. Nach der Richtlinie ist der verfahrensrechtliche Geschäftsgeheimnisschutz nur dann zu gewähren, wenn es sich um ein Verfahren handelt, das den rechtswidrigen Erwerb, die rechtswidrige Nutzung oder Offenlegung eines Geheimnisses zum Gegenstand hat. Die Norm ist daher nicht anwendbar, wenn das Geschäftsgeheimnis nur beiläufig zu Tage tritt. Es werden lediglich Verfahren nach § 26c UWG erfasst, bei denen die rechtswidrige Erlangung oder Verwendung des Geschäftsgeheimnisses den Verfahrensgegenstand an sich bildet. Eine Ausdehnung auf Verfahren, die nicht der Wahrung und Durchsetzung von Geschäftsgeheimnissen dienen, lässt sich aus diesem Normzweck daher nicht ableiten. Hätte der Gesetzgeber eine generelle Anwendung auch in anderen Verfahren intendiert, wäre eine Regelung in den allgemeinen Verfahrensgesetzen und nicht im Rahmen wettbewerbsrechtlicher Sondervorschriften zu erwarten gewesen.

Der verfahrensrechtliche Geheimnisschutz des § 29h UWG ist daher auf Verfahren beschränkt, die den rechtswidrigen Erwerb, die rechtswidrige Nutzung oder Offenlegung eines Geheimnisses gemäß §§ 26c ff UWG zum Gegenstand haben. Die Bestimmung stellt daher keine sondergesetzlich geregelte Grundlage zur Einschränkung des einer Partei zustehenden Rechts auf Akteneinsicht im Verlassenschaftsverfahren dar.

 

 

Link zum Entscheidungstext

 

 

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