EuGH-Urteil vom 6.10.2021, Rechtssache C‑13/20

 

Sachverhalt:

Das belgische Unternehmen Top System entwickelt Computerprogramme und erbringt IT‑Dienstleistungen. Der Selor ist eine belgische Behörde, die für die Auswahl zukünftiger Beamten zuständig ist.  Seit 1990 arbeitet Top System mit dem Selor zusammen. Der Selor besitzt eine Lizenz zur Nutzung der von Top System entwickelten Anwendungen. Nachdem Funktionsprobleme auftraten, die von Top System nicht schnell genug behoben werden konnten, dekompilierte der Selor die Anwendung.

Top System klagte auf Feststellung und Zahlung von Schadenersatz wegen der Dekompilierung und Kopie der Quellcodes dieser Software. Das Gericht erster Instanz wies die Klage ab. Der Appellationshof Brüssel beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob es dem rechtmäßigen Erwerber eines Computerprogramms erlaubt ist, dieses zur Fehlerbehebung zu dekompilieren.

 

Entscheidung:

Der EuGH entschied, dass der rechtmäßige Erwerber eines Computerprogramms berechtigt ist, dieses zu dekompilieren, um Fehler zu berichtigen, die das Funktionieren dieses Programms beeinträchtigen. Ebenso darf eine Funktion deaktiviert werden, die das ordnungsgemäße Funktionieren der Anwendung beeinträchtigt.

Der Erwerber darf eine solche Dekompilierung jedoch nur in dem für die Berichtigung erforderlichen Ausmaß und gegebenenfalls unter Einhaltung der mit dem Inhaber des Urheberrechts an diesem Programm vertraglich festgelegten Bedingungen vornehmen.

In seiner Begründung hielt der EuGH fest, dass dem Inhaber des Urheberrechts an einem Computerprogramm gem. Art. 4 Buchst. a der Richtlinie 91/250 (Computerprogramm-Richtlinie), abgesehen von den Ausnahmen in den Art. 5 und 6 das ausschließliche Recht zukommt, die dauerhafte oder vorübergehende Vervielfältigung dieses Programms ganz oder teilweise mit jedem Mittel und in jeder Form vorzunehmen oder zu gestatten. Der Rechtsinhaber hat das ausschließliche Recht, die Übersetzung, die Bearbeitung, das Arrangement und andere Umarbeitungen eines Computerprogramms sowie die Vervielfältigung der erzielten Ergebnisse vorzunehmen oder zu gestatten.

Art. 5 bestimmt jedoch, dass in Ermangelung spezifischer vertraglicher Bestimmungen die in Art. 4 genannten Handlungen nicht der Zustimmung des Rechtsinhabers bedürfen, wenn sie für eine bestimmungsgemäße Benutzung des Computerprogramms einschließlich der Fehlerberichtigung notwendig sind. Nach Art. 6 („Dekompilierung“) ist die Zustimmung des Rechtsinhabers auch dann nicht erforderlich, wenn die Vervielfältigung des Codes oder die Übersetzung der Codeform unerlässlich ist, um die erforderlichen Informationen zur Herstellung der Interoperabilität eines unabhängig geschaffenen Computerprogramms mit anderen Programmen zu erhalten, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind.

Die Dekompilierung als solche nicht findet sich nicht unter den in Art. 4 genannten Handlungen, auf die sich Art. 5 bezieht. Die Dekompilierung eines Computerprogramms impliziert die Vornahme von Handlungen – nämlich die Vervielfältigung des Codes dieses Programms und die Übersetzung der Codeform – die tatsächlich unter die Ausschließlichkeitsrechte des Urhebers im Sinne von Art. 4 fallen. Diese Auslegung wird durch den Wortlaut von Art. 6 bestätigt.

Nach Art. 5 kann der rechtmäßige Erwerber eines Computerprogramms alle in Art. 4 genannten Handlungen vornehmen, sofern dies für die Benutzung des Programms einschließlich der Berichtigung von Fehlern notwendig ist. Art. 5 ist daher dahin auszulegen ist, dass der rechtmäßige Erwerber eines Programms berechtigt ist, dieses Programm zu dekompilieren, um Fehler zu berichtigen, die dessen Funktionieren beeinträchtigen. Der rechtmäßige Erwerber eines Computerprogramms ist mangels entsprechender spezifischer vertraglicher Bestimmungen auch dazu berechtigt, ohne vorherige Zustimmung des Rechtsinhabers die in Art. 4 genannten Handlungen vorzunehmen, einschließlich der Dekompilierung dieses Programms, soweit dies zur Berichtigung von Fehlern notwendig ist.

Das Ergebnis dieser Dekompilierung darf aber nicht zu anderen Zwecken als zur Berichtigung dieser Fehler verwendet werden. Zur Vervielfältigung oder öffentliche Verbreitung der erzielten Ergebnisse ist der Erwerber nicht berechtigt.

 

 

Link zum Entscheidungstext

 

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