EuGH-Urteil vom 27.10.2022, Rechtssache C‑418/21

 

Sachverhalt:

Orthomol ist ein pharmazeutisches Unternehmen, das die Erzeugnisse „Orthomol Immun“ und „Orthomol AMD extra“ als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke vermarktet. Es wirbt mit dem Hinweis, „Orthomol Immun“ diene der „ernährungsmedizinischen Unterstützung des Immunsystems“ und „zum Diätmanagement bei nutritiv bedingten Immundefiziten (z. B. bei rezidivierenden Atemwegsinfekten)“, und „Orthomol AMD extra“ diene „zum Diätmanagement bei fortgeschrittener altersabhängiger Makuladegeneration“ (AMD).

Ein Verband zum Schutz des lauteren Wettbewerbs erhob Klage gegen Orthomol und beantragte, zu untersagen, die in Rede stehenden Erzeugnisse als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke in den Verkehr zu bringen.

Das erstinstanzliche Gericht gab der Klage mit der Begründung statt, dass es für die Einstufung eines Erzeugnisses als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke nicht ausreiche, dass die Nährstoffe positive Auswirkungen auf das Auftreten oder den Verlauf einer Krankheit in dem Sinne hätten, dass sie hälfen, ihr vorzubeugen, sie zu lindern oder sie zu heilen. Orthomol legte gegen dieses Urteil beim OLG Düsseldorf (Deutschland) Berufung ein, das den Fall dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegte.

 

Entscheidung:

Der EuGH verwies zunächst auf den Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013, wonach Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zwei Merkmale aufweisen, anhand deren sie sich von anderen Kategorien von Erzeugnissen unterscheiden lassen:

  • Zum einen sind sie Lebensmittel, die zur ausschließlichen oder teilweisen Ernährung von Patienten bestimmt sind, bei denen eine bestimmte Krankheit oder eine bestimmte Störung vorliegt bzw. bestimmte Beschwerden vorliegen.
  • Zum anderen werden sie in spezieller Weise so verarbeitet oder formuliert, dass sie den sich aus dieser Krankheit, dieser Störung oder diesen Beschwerden ergebenden besonderen Ernährungsanforderungen entsprechen.

Folglich stellte der EuGH zunächst fest, dass Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke schon ihrer Bezeichnung nach Lebensmittel sind, die wesensgemäß zum menschlichen Verzehr und zur menschlichen Ernährung bestimmt sind. Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke sind jedoch keine gewöhnlichen Lebensmittel. Es handelt sich bei ihnen nämlich um Lebensmittel „für besondere medizinische Zwecke“, die zum besonderen Diätmanagement der Patienten „in spezieller Weise verarbeitet oder formuliert“ wird und nur unter ärztlicher Aufsicht zu verwenden ist.

Der Unionsgesetzgeber hat den Begriff „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ dadurch definiert, dass er zwei Arten von besonderen medizinischen Zwecken in Betracht gezogen hat, für die diese Lebensmittel bestimmt sein können: 

  • Sie sind entweder für Patienten mit eingeschränkter, behinderter oder gestörter Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechslung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel oder bestimmter darin enthaltener Nährstoffe oder Stoffwechselprodukte bestimmt.
  • Oder sie sind für Patienten mit einem sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf bestimmt, für deren Diätmanagement die Modifizierung der normalen Ernährung allein nicht ausreicht.

 Aus der Bestimmung lässt sich jedoch nicht ableiten, dass Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke dazu dienen, menschliche Krankheiten zu verhüten oder zu heilen, die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine bestimmte Wirkung zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen. Sie ermöglichen es nicht, einer Krankheit oder Beschwerden entgegenzuwirken, aber sie lassen sich anhand ihrer spezifischen Ernährungsfunktion charakterisieren.

Wenn ein Patient aus der Aufnahme eines Erzeugnisses jedoch insoweit allgemein einen Nutzen zieht, als dessen Inhaltsstoffe dazu beitragen, einer Krankheit vorzubeugen, sie zu lindern oder sie zu heilen, dann zielt dieses Erzeugnis nicht darauf ab, diesen Patienten zu ernähren, sondern ihn zu heilen, einer Krankheit vorzubeugen oder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine bestimmte Wirkung zu beeinflussen, was dafür spricht, dieses Erzeugnis anders denn als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke einzustufen.

Folglich reicht der Umstand, dass ein Erzeugnis es ermöglicht, durch Nährstoffzufuhr einer Krankheit, einer Störung oder Beschwerden anderweitig entgegenzuwirken, nicht aus, um dieses Erzeugnis als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke einzustufen, wenn das fragliche Erzeugnis nicht dazu dient, den durch eine Krankheit, eine Störung oder Beschwerden bedingten besonderen Ernährungsanforderungen gerecht zu werden. Daher kam der EuGH schließlich zu seinem Urteil, wonach Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 und insbesondere der Begriff „sonstiger medizinisch bedingter Nährstoffbedarf“ dahin auszulegen ist, dass ein Erzeugnis ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke darstellt, wenn krankheitsbedingt ein erhöhter oder spezifischer Nährstoffbedarf besteht, der durch das Lebensmittel gedeckt werden soll, so dass es für eine solche Einstufung nicht ausreicht, dass der Patient allgemein aus der Aufnahme dieses Lebensmittels deswegen Nutzen zieht, weil darin enthaltene Stoffe der Störung entgegenwirken oder deren Symptome lindern.

 

Link zum Entscheidungstext

 

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