OLG Wien-Entscheidung vom 15.9.2025, 2 R 107/25g

 

Sachverhalt:

Die Klägerin betreibt seit rund einem Jahrhundert einen Verlag, der sowohl Belletristik als auch Sachbücher verlegt. Im April 2024 erschien bei ihr eine Biografie über den Vorsitzenden einer politischen Partei. Sämtliche Verwertungsrechte an diesem Buch lagen vertraglich beim Verlag.

Nur wenige Tage nach Erscheinen des Buches publizierte ein Online-Magazin einen Artikel, in dem zahlreiche Textpassagen aus der Biografie zitiert wurden. Der Verlag sah darin eine Verletzung seiner Urheberrechte und klagte auf Unterlassung sowie auf Zahlung von EUR 960 Schadenersatz. Ein literarisches „Kleinzitat“ gemäß § 42f Abs 1 Z 3 UrhG liege nicht vor.

Das beklagte Medienunternehmen berief sich auf das Zitatrecht gemäß § 42f UrhG sowie auf die Meinungsäußerungsfreiheit nach Artikel 10 der EMRK.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht gab der Klage vollumfänglich statt und stellte fest, dass die Grenzen der zulässigen freien Werknutzung eindeutig überschritten worden seien. Das OLG Wien wies die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten ab:

Gemäß § 42f UrhG darf ein veröffentlichtes Werk zum Zweck des Zitats vervielfältigt und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist. Der Urheber muss in bestimmten Fällen die vergütungsfreie Nutzung hinnehmen, die jedoch im Regelfall auf umfänglich unterschiedliche Werkteile beschränkt ist und vor allem der geistigen Auseinandersetzung dienen soll. Das Zitatrecht dient insbesondere der Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit (siehe HIER im Blog) und dem allgemeinen kulturellen und wissenschaftlichen Fortschritt.

Zulässig ist die Nutzung eines veröffentlichten Werks gemäß Abs 1 Z 3 leg cit unter anderem, wenn einzelne Stellen eines veröffentlichten Sprachwerkes in einem selbstständigen neuen Werk angeführt werden (sog „Kleinzitat“). Entscheidend für die Beurteilung der Zulässigkeit eines Zitats ist der Zitatzweck. Es wird ein Mindestmaß an Beziehung zum zitierten Werk gefordert. Die Rechtsprechung beschreibt dies mit der sogenannten Belegfunktion des Zitats, das heißt, es muss eine gewisse Auseinandersetzung mit dem zitierten Werk stattfinden. Als Zitatzwecke kommen insbesondere Kritik, Rezensionen, die Anführung als Beispiel oder die Begründung der eigenen Meinung in Betracht. Erforderlich ist jedoch eine erkennbare Auseinandersetzung mit dem zitierten Werk, wobei das Zitat lediglich Hilfsmittel eigener gedanklicher Ausführungen sein darf (siehe etwa HIER im Blog).

Dieser Zweck lag im vorliegenden Fall nicht vor. Der Artikel der Beklagten bestand überwiegend aus abgeschlossenen, wortidenten Absätzen der Biografie, ohne dass diese inhaltlich eingeordnet oder kommentiert worden wären. Von insgesamt 27 Absätzen des Artikels bestanden 21 Absätze ausschließlich aus geschlossenen, hintereinander gereihten Zitaten des Buches mit circa 1274 Wörtern. Weitere zwei Absätze fassten lediglich, teils wortwörtlich, die Reaktion des Biografierten zusammen. Die wenigen eigenen Einleitungen und Zusammenfassungen des Autors boten keine selbstständige Einordnung oder Kritik des Buches. Der Autor des Artikels versuchte nicht, einzelne Passagen des Buchs in eine eigene Darstellung zu integrieren und seine eigene Meinung dazu mit den Zitaten nur zu belegen oder zu ergänzen. Damit war weder ein Zitatzweck erkennbar noch eine echte Eigenleistung feststellbar. Ohne dies Zitate hätte der Artikel überhaupt keinen Informationswert gehabt.

Der Verweis der Beklagten auf Meinungsäußerungsfreiheit nach Art 10 EMRK griff nicht durch. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Freiheit der Berichterstattung kein Freibrief, urheberrechtliche Schutzrechte zu umgehen. Eine Interessenabwägung fällt regelmäßig zulasten des Zitierenden aus, wenn eine Zustimmung des Rechteinhabers ohne Weiteres hätte eingeholt werden können oder der Zweck durch eigene Formulierungen erreichbar gewesen wäre. Kann die Einwilligung des Urhebers gegen Zahlung eines angemessenen Entgelts erreicht werden, so ist eine Berufung auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung von vornherein ausgeschlossen. Die Beklagte hätte die Inhalte der Biografie mit eigenen Worten darstellen oder eine Lizenz einholen können. Der Artikel verschaffte den Lesern umfassenden Einblick in die wesentlichen Inhalte der Biografie und war daher geeignet, deren Absatzchancen zu beeinträchtigen. Die wirtschaftlichen Interessen der Klägerin überwogen deutlich.

Auch das Schadenersatzbegehren war begründet. Für die Höhe des angemessenen Entgelts ist der Rechteinhaber behauptungs- und beweispflichtig; gegebenenfalls ist das angemessene Entgelt nach § 273 ZPO zu schätzen (siehe etwa HIER im Blog). Nach § 87 Abs 3 UrhG kann der Verletzte das Doppelte des angemessenen Entgelts verlangen, sofern zumindest leichte Fahrlässigkeit vorliegt. Das Gericht stellte fest, dass die Klägerin üblicherweise ein Honorar zwischen EUR 400 und 500 für eine derartige Nutzung verlangt. Ausgehend davon war der vom Erstgericht festgesetzte Schadenersatz nicht zu beanstanden.

 

 

Link zur Entscheidung

 

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