EuGH-Urteil vom 2.3.2023, Rechtssache C‑760/21
Sachverhalt:
Das österreichische Unternehmen Kwizda Pharma vertreibt vier Produkte, durch deren Inhaltsstoffe die Anhaftung von Bakterien an den Schleimhäuten der Harnwege verhindert werden soll. Kwizda meldete dem zuständigen Ministerium das Inverkehrbringen dieser vier Produkte als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013.
Per Bescheid lehnte der Landeshauptmann von Wien die Einstufung dieser vier Produkte als „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ ab. Diese Produkte seien insoweit keine Lebensmittel, als die die ausgelobte Wirkung verursachenden Inhaltsstoffe, nämlich D‑Mannose und Cranberry, ihre Wirkung nicht durch ihre Aufnahme in den Ernährungstrakt erzielten, sondern infolge deren Einwirkung auf die Organe der renalen Ausscheidung. Kwizda Pharma bekämpft diese Bescheide.
Das Verwaltungsgericht Wien unterbrach das Verfahren und legte dem EuGH eine Reihe von Fragen zur Vorabentscheidung vor.
Entscheidung:
Der EuGH hielt zur Frage der Abgrenzung von „Arzneimitteln“ von einem „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ zunächst fest, dass für die Abgrenzung dieser Begriffe im Hinblick auf Art und Merkmale des betreffenden Erzeugnisses zu beurteilen ist, ob es sich um ein Lebensmittel handelt, das besonderen Ernährungsanforderungen entsprechen soll, oder ob es sich um ein Erzeugnis handelt, das dazu bestimmt ist, menschlichen Krankheiten vorzubeugen oder sie zu heilen […] oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.
Zur Auslegung der Begriffe „Diätmanagement“ und „Modifizierung der normalen Ernährung allein“ hielt der EuGH fest, dass der Begriff „Diätmanagement“ einen Bedarf erfasst, der durch eine Krankheit, eine Störung oder Beschwerden verursacht wird und dessen Deckung für den Patienten unter Ernährungsgesichtspunkten unerlässlich ist. Die Qualifizierung als „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ könne nicht davon abhängig gemacht werden kann, dass der Erfolg des „Diätmanagements“ und folglich die Wirkung des Erzeugnisses notwendigerweise im Wege der Verdauung eintritt. Unter die Wendung „Modifizierung der Ernährung für den Patienten allein“ fallen sowohl Sachlagen, in denen eine Modifizierung der Ernährung für den Patienten unmöglich oder gefährlich ist, als auch Sachlagen, in denen der Patient nur sehr schwer seinen Ernährungsbedarf durch den Verzehr gewöhnlicher Lebensmittel zu decken vermag.
Zum Begriff „Nährstoff“ wies der EuGH darauf hin, dass die Verordnung den Begriff „Nährstoff“ nicht definiert und daher auf die Definition dieses Begriffs in Art. 2 Abs. 2 Buchst. s der Verordnung Nr. 1169/2011 abzustellen ist. (Dieser Bestimmung zufolge sind Nährstoffe: Eiweiße, Kohlenhydrate, Fett, Ballaststoffe, Natrium, Vitamine und Mineralien, die in Anhang XIII Teil A Nummer 1 dieser Verordnung aufgeführt sind, sowie Stoffe, die zu einer dieser Klassen gehören oder Bestandteil einer dieser Klassen sind.)
Zur Vorgabe, dass ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke „unter ärztlicher Aufsicht zu [verwenden ist]“ führte der EuGH aus, dass die Empfehlung und die nachfolgende Beurteilung durch einen Arzt notwendig sind; aber dass diese Vorgabe als solche keine Voraussetzung für die Einstufung eines Erzeugnisses als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke ist.
Die Frage, nach welchen Kriterien die Begriffe „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ und „Nahrungsergänzungsmittel“ voneinander abgegrenzt werden können, beantwortete der EuGH schließlich dahingehend, dass diese Begriffe einander ausschließen und dass es erforderlich ist, im Einzelfall und anhand der Merkmale und Verwendungsbedingungen zu bestimmen, ob ein Erzeugnis unter den einen oder den anderen dieser Begriffe fällt. Nahrungsergänzungsmittel dienen im Grunde nur dazu, „die normale Ernährung“ zu ergänzen, während Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke die Ernährung ganz oder teilweise ersetzen. Nahrungsergänzungsmittel sind Konzentrate von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung, die wie gewisse Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke bestimmten Ernährungsanforderungen entsprechen können. Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zeichnen sich jedoch durch die medizinischen Zwecke aus. Beide Produkte richten sich an verschiedene Zielgruppen. Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke sollen besonderen Ernährungsanforderungen entsprechen. Im Gegensatz zu Nahrungsergänzungsmitteln richten sie sich an Patienten und müssen daher unter ärztlicher Aufsicht verwendet werden.
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