EuGH-Urteile vom 17.11.2022, Rechtssachen C‑204/20, C‑147/20, C‑224/20

 

Sachverhalt:

Der EuGH entschied im November 2022 im Rahmen mehrerer Vorabentscheidungsverfahren über die markenrechtliche Zulässigkeit von Arzneimittel-Parallelimporten. (Teil 1 kann hier im Blog nachgelesen werden.)

In den hier berichteten Verfahren standen verschiedene Pharmakonzerne (Bayer, Novartis, Merck, etc) Parallelimporteuren gegenüber, die den dänischen Markt mit parallelimportierten Arzneimitteln beliefern. Die Parallelimporteure teilten den jeweiligen Pharmakonzernen mit, dass die auf der äußeren Verpackung der Arzneimittel angebrachten Sicherungsetiketten (Vorrichtungen gegen Manipulationen) aufgebrochen und die Verpackung ersetzt werden müsse. Gründe hierfür lagen in der Regel im Erfordernis, nachträglich Beipackzettel bzw. Packungsbeilagen in der Landessprache in die Verpackungen zu legen. Die Pharmakonzerne widersetzten sich der geplanten Neuverpackung mit der Begründung, dass die Verwendung einer neuen Umhüllung über das hinausgehe, was für das Inverkehrbringen dieses Arzneimittels in Deutschland erforderlich sei. Die Parallelimporteure argumentierten, dass die Großhändler und Apotheker verpflichtet seien zu prüfen, ob die äußere Umhüllung manipuliert worden sei. Dies könne nur durch eine neue äußere Umhüllung verhindert werden. Alternativ (und auch günstiger) besteht grundsätzlich die Möglichkeit einer Neuetikettierung.

Die nationalen Gerichte (Landgericht Hamburg und das dänische See- und Handelsgericht) legten die Verfahren dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

 

Entscheidung:

Der EuGH verwies zunächst darauf, dass die Fälschungsschutzrichtlinie 2011/62 der wachsenden Bedrohung für die menschliche Gesundheit durch die gefälschten Arzneimittel begegnen solle. Die Richtlinie 2001/83/EG (Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel) sieht u.a. vor, dass Sicherheitsmerkmale nur unter strengen Voraussetzungen, die die Echtheit des Arzneimittels und das Fehlen jeder Manipulation gewährleisten sollen, entfernt oder überdeckt werden dürfen. Entfernte Sicherheitsmerkmale müssen durch „gleichwertige“ Sicherheitsmerkmale ersetzt werden. Der EuGH kam hier zu dem Ergebnis, dass das Umpacken in eine neue Umhüllung und die Neuetikettierung von parallelimportierten Arzneimitteln gleichwertig sind, sofern alle Anforderungen erfüllt sind.

Zur Frage, ob sich ein Markeninhaber einer Neuverpackung („Reboxing“) widersetzen könne, wenn auch eine Neuetikettierung („Relabelling“) möglich sei, verwies der EuGH zunächst auf die BMS-Kriterien“ (Kriterien siehe hier). Der EuGH beantwortete die Frage schließlich dahingehend, dass der Inhaber einer Marke berechtigt ist, sich einer Umverpackung vor dem weiteren Vertrieb eines Arzneimittels durch Parallelimporteure widersetzen kann, wenn eine Neuetikettierung objektiv möglich ist und das neu etikettierte Arzneimittel tatsächlich Zugang zum Markt des Einfuhrmitgliedstaats erlangen kann.

Wenn sichtbare Öffnungsspuren auf den Originalverpackungen auf dem Markt des Einfuhrmitgliedstaats jedoch einen derart starken Widerstand eines nicht unerheblichen Teils der Verbraucher gegen die so umgepackten Arzneimittel hervorrufen, dass er ein Hindernis für den tatsächlichen Zugang zu diesem Markt darstellen würde, müssten die nationalen Gerichte im Einzelfall prüfen, ob sich die Markeninhaber gegen eine Neuverpackung widersetzen können.

In der Rechtssache C-224/20 sprach der EuGH zudem aus, dass nationale Behörden nicht vorschreiben dürfen, dass parallelimportierte Arzneimittel grundsätzlich in eine neue Umhüllung umgepackt werden müssen und dass auf eine Neuetikettierung und das Anbringen neuer Sicherheitsmerkmale nur nach Antragstellung und in außergewöhnlichen Fällen zurückgegriffen werden kann.

Im Hinblick auf eine allfällige Rufschädigung oder Beeinträchtigung der Herkunftsfunktion der Marke sprach der EuGH aus, dass dies der Fall sein könne, wenn der Parallelimporteur die Marke nicht auf der neuen äußeren Umhüllung anbringt oder entweder sein eigenes Logo, Firmenmarkenzeichen, odgl. so auf der Verpackung anbringt, dass eine herkunftshinweisende Funktion der Marke beeinträchtigt wird. Der Markeninhaber könne sich gegen eine solche Vorgehensweise widersetzen, wenn die neue Aufmachung tatsächlich geeignet ist, den Ruf der Marke zu schädigen, oder wenn diese Aufmachung es dem normal informierten und angemessen aufmerksamen Verbraucher nicht oder nur schwer ermöglicht zu erkennen, ob dieses Arzneimittel vom Inhaber der Marke oder einem mit ihm wirtschaftlich verbundenen Unternehmen oder im Gegenteil von einem Dritten stammt, und damit die herkunftshinweisende Funktion der Marke beeinträchtigt wird.

 

Link zur Entscheidung C‑204/20

Link zur Entscheidung C‑147/20

Link zur Entscheidung C‑224/20

 

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