EuGH-Urteil vom 17.11.2022, Rechtssachen C‑253/20 und C‑254/20

 

Sachverhalt:

Der EuGH entschied im November 2022 im Rahmen mehrerer Vorabentscheidungsverfahren über die markenrechtliche Zulässigkeit von Arzneimittel-Parallelimporten. Unter anderem standen sich der Pharmakonzern Novartis und belgische Parallelimporteure gegenüber. Novartis vertreibt sowohl Originalpräparate als auch Generika über sein Konzernunternehmen Sandoz. Kurz zusammengefasst ging es darum, dass die Parallelimporteure Generika von Sandoz aufkauften und in Belgien in einer anderen Verpackung unter den Marken der Originalprodukte vertrieben. Auf diese Weise konnten die Parallelimporteure ein Vielfaches des Kaufpreises des Generikums erzielen. Novartis klagte gegen diese Benutzung seiner Marken.

 

Entscheidung:

Der EuGH wies im Hinblick auf den Erschöpfungsgrundsatz im Markenrecht darauf hin, dass eine Marke ihrem Inhaber nicht das Recht gewährt, einem Dritten zu verbieten, die Marke für Waren zu benutzen, die unter dieser Marke von ihm oder mit seiner Zustimmung in der Union in den Verkehr gebracht worden sind. Diese Bestimmungen sollen die grundlegenden Belange des Markenschutzes mit denen des freien Warenverkehrs im Binnenmarkt in Einklang bringen. Das Markenrecht diene nicht dazu, den Markeninhabern die Möglichkeit zu geben, die nationalen Märkte abzuschotten und dadurch die Beibehaltung der eventuellen Preisunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern.

Ein Umpacken bzw. Relabeling ist seit einem Grundsatz-Urteil des EuGH (Bristol-Myers Squibb) zulässig, wenn

  • erwiesen ist, dass die Geltendmachung einer Marke durch den Markeninhaber zu dem Zweck, sich dem Vertrieb der umgepackten Ware unter der Marke zu widersetzen, zu einer künstlichen Abschottung der Märkte zwischen Mitgliedstaaten beitragen würde;
  • dargetan ist, dass das Umpacken den Originalzustand der Ware nicht beeinträchtigen kann;
  • auf der Verpackung ist klar angegeben, von wem die Ware umgepackt worden ist und wer deren Hersteller ist;
  • die umgepackte Ware nicht so aufgemacht ist, dass dadurch der Ruf der Marke und ihres Inhabers geschädigt werden kann, und
  • der Importeur den Markeninhaber vor dem Inverkehrbringen der umgepackten Ware unterrichtet und ihm auf Verlangen ein Muster dieser Ware liefert.

Dies sind die sog. „BMS-Kriterien“, also die in der oben verlinkten Entscheidung entwickelten Voraussetzungen.

Der EuGH hat bereits in einer anderen Entscheidung festgehalten, dass es zur künstlichen Abschottung (iSd des ersten BMS-Kriteriums) der Märkte zwischen den Mitgliedstaaten beiträgt, wenn sich der Markeninhaber einem Umpacken von Arzneimitteln widersetzt, das erforderlich ist, um die parallel importierte Ware im Einfuhrmitgliedstaat vertreiben zu können. Die Voraussetzung der Erforderlichkeit ist insbesondere dann erfüllt, wenn die Umstände im Einfuhrmitgliedstaat das Umpacken objektiv erforderlich machen. Dagegen ist die Voraussetzung nicht erfüllt, wenn das Umpacken der Ware seinen Grund ausschließlich darin hat, dass der Parallelimporteur einen wirtschaftlichen Vorteil erlangen möchte.

Der vorliegende Fall ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass es sich bei den parallel gehandelten Arzneimitteln um Generika handelt, während die Marken, die auf den neuen Verpackungen angebracht wurden, die Marken der entsprechenden Referenzarzneimittel sind.

Zur Frage, ob nun Identität der Arzneimittel vorliegt, führte der EuGH aus, dass sich die Zusammensetzung des Generikums von der des Referenzarzneimittels in Bezug auf die Darreichungsform, die chemische Form des Wirkstoffs und seine Arzneiträgerstoffe unterscheiden kann. Es könne aber nur ein Arzneimittel, das in jeder Hinsicht identisch ist, in eine neue äußere Verpackung umgepackt und mit der Marke gekennzeichnet werden. Dies könne insbesondere bei einem Referenzarzneimittel und einem Generikum der Fall sein, die von demselben Unternehmen oder verbundenen Unternehmen hergestellt werden und in Wirklichkeit ein und dieselbe Ware darstellen.

Da das Vorlagegericht von einer Identität der beiden Arzneimittel ausging, prüfte der EuGH, ob die Auswechslung der Marken objektiv erforderlich war, um den Marktanforderungen zu genügen. Im vorliegenden Fall verneinte der EuGH diese Frage und somit war auch die Voraussetzung der Erforderlichkeit nicht erfüllt. Das Recht des Markeninhabers sich in einem solchen Fall zu widersetzen, könne nicht eingeschränkt werden, wenn die Ersetzung der Marke ausschließlich aus wirtschaftlichen Erwägungen erfolgt; etwa, um vom Ruf der Marke zu profitieren oder eine Ware in einer einträglicheren Warengruppe zu positionieren.

Der EuGH kam daher zu dem Ergebnis, dass der Inhaber der Marke eines Referenzarzneimittels und der Marke eines Generikums sich dem Inverkehrbringen dieses aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführten Generikums durch einen Parallelimporteur in einem Mitgliedstaat widersetzen kann, wenn das Generikum in eine neue äußere Verpackung umgepackt wurde, auf der die Marke des entsprechenden Referenzarzneimittels angebracht wurde, es sei denn, dass die beiden Arzneimittel in jeder Hinsicht identisch sind und für die Ersetzung der Marke die „BMS-Kriterien“ erfüllt sind.

 

 

Link zum Entscheidungstext

 

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