EuGH-Urteil vom 8.7.2021, Rechtssache C-178/20

 

Sachverhalt:

Das ungarische Unternehmen Pharma Expressz vertrieb in Ungarn Arzneimittel, die in anderen EU-Mitgliedsstaaten rezeptfrei waren (nicht der ärztlichen Verschreibungspflicht unterliegende Arzneimittel). Das Unternehmen verstieß damit gegen ungarisches Recht, wonach Arzneimittel, die über keine Genehmigung von den ungarischen Behörden oder der Europäischen Kommission verfügen, nur dann vertrieben werden dürfen, wenn ihre Verwendung zu therapeutischen Zwecken den ungarischen Behörden von einem verschreibenden Arzt mitgeteilt wird, der eine Stellungnahme dieser Behörden zu dieser Anwendung einholen muss.

Pharma Expressz wurde zur Unterlassung verurteilt und erhob Rechtsmittel gegen das Urteil. Das zuständige Gericht legte den Fall dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

 

Entscheidung:

Der EuGH entschied, dass ein in einem Mitgliedstaat nicht der ärztlichen Verschreibungspflicht unterliegendes Arzneimittel in einem anderen Mitgliedstaat nur dann vertrieben werden darf, wenn auch dieser Mitgliedstaat sein Inverkehrbringen genehmigt. Ohne diese Genehmigung kann die Abgabe dieses Arzneimittels dort jedoch möglich sein, wenn es im Einklang mit dem Unionsrecht in besonderen medizinischen Bedarfsfällen verwendet wird.

In seiner Urteilsbegründung wies der EuGH darauf hin, dass nach der Arzneimittelrichtlinie (Richtlinie 2001/83/EG) ein Arzneimittel in einem Mitgliedstaat erst dann in den Verkehr gebracht werden darf, wenn die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats oder die Europäische Kommission eine Genehmigung erteilt hat. Verfügt ein Arzneimittel über keine solche Genehmigung für das Inverkehrbringen, darf es in diesem Staat nicht vertrieben werden, und zwar unabhängig davon, ob es in einem anderen Mitgliedstaat ohne ärztliche Verschreibung verkauft werden darf.

Zu dem in der Arzneimittelrichtlinie vorgesehenen Verfahren der gegenseitigen Anerkennung stellte der EuGH fest, dass dieses Verfahren unter strengen Voraussetzungen durchgeführt wird und davon abhängt, dass der Inhaber einer Genehmigung in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf Anerkennung dieser Genehmigung in den anderen Mitgliedstaaten stellt, was nicht den Umständen der vorliegenden Rechtssache entspricht.

Folglich steht die Arzneimittelrichtlinie der Schlussfolgerung entgegen, dass ein Arzneimittel, dessen Inverkehrbringen als nicht der ärztlichen Verschreibungspflicht unterliegendes Arzneimittel durch einen Mitgliedstaat genehmigt wurde, in einem anderen Mitgliedstaat, der dessen Vertrieb nicht genehmigt hat, ebenfalls als nicht der ärztlichen Verschreibungspflicht unterliegendes Arzneimittel anzusehen ist.

Schließlich stellt der EuGH fest, dass die ungarischen Formalitäten offenbar die Umsetzung einer in der Arzneimittelrichtlinie vorgesehenen Ausnahme in ungarisches Recht darstellen, die in besonderen medizinischen Bedarfsfällen das Inverkehrbringen von Arzneimitteln in einem Mitgliedstaat gestattet, selbst wenn keine von diesem Staat oder der Kommission erteilte Genehmigung für das Inverkehrbringen vorliegt. Da Ungarn mit der Einführung dieser Formalitäten eine ordnungsgemäße Umsetzung dieser Ausnahme vorgenommen hat, können sie jedoch nicht als mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen oder Maßnahme gleicher Wirkung im Hinblick auf den Grundsatz des freien Warenverkehrs eingestuft werden.

 

Link zum Entscheidungstext 

Link zur EuGH-Pressemitteilung vom 8. Juli 2021

 

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