OGH-Entscheidung vom 30.5.2022, 2 Ob 48/22f

 

Sachverhalt:

Im Jahr 2018 verstarb eine stark sehbehinderte Frau, die mehrere letztwillige Verfügungen hinterlassen hatte. In ihrem letzten (fremdhändigen) Testament widerrief sie alle früheren letztwilligen Verfügungen, traf Vorkehrungen für ihr Begräbnis sowie die Grabstätte und setzte ein Vermächtnis aus. Der gesamte Text der aus fünf Punkten bestehenden letztwilligen Verfügung fand auf einer A4-Seite Platz. Das Testament wurde von der Erblasserin sowie drei Testamentszeuginnen unterfertigt. Nach dem letzten Punkt des Testaments wurde dieses aufgrund der Sehschwäche der Erblasserin von einer der Testamentszeuginnen wortwörtlich vorgelesen. Die anderen beiden Zeuginnen lasen das Testament vor der Leistung ihrer Unterschrift nicht.

 

Entscheidung:

Die Vorinstanzen gingen übereinstimmend von der Unwirksamkeit des Testaments aus. Aufgrund des Errichtungszeitpunkts der zu beurteilenden letztwilligen Verfügung war die Rechtslage vor dem ErbRÄG 2015 anzuwenden (§ 1503 Abs 7 Z 5 ABGB). Nach § 581 ABGB aF muss sich der Erblasser, wenn er nicht lesen kann, den Aufsatz von einem Zeugen in Gegenwart der anderen zwei Zeugen, die den Inhalt eingesehen haben, vorlesen lassen und bekräftigen, dass derselbe seinem Willen gemäß sei. Die Vorschrift wurde mit geringen sprachlichen Änderungen in das neue Erbrecht transferiert (nunmehr § 580 Abs 2 ABGB).

Auch wenn der Gesetzeszweck keine Kontrolle „Wort für Wort“ gebietet, so war nach Ansicht des OGH von den Zeugen doch wenigstens eine überblicksartige Kontrolle der von ihnen unterfertigten letztwilligen Verfügung zu verlangen. Diese Kontrolle muss es den Zeugen zumindest ermöglichen, einen Abgleich des Vorgelesenen mit der zu unterfertigenden Urkunde in den zentralen Punkten vorzunehmen. Dem offenkundigen Zweck, Unterschiebungen und Fälschungen zu verhindern, werde ansonsten nicht in ausreichender Weise entsprochen. Die bloße Möglichkeit von Zeugen zur Einsichtnahme in das fremdhändige Testament eines Erblassers, der nicht lesen kann, reicht daher zur Erfüllung der Formerfordernisse nach § 581 ABGB aF nicht aus.

Da die anderen beiden Zeuginnen keine Kontrolle des Inhalts des Testaments vor dessen Unterfertigung vornahmen, sondern sie vielmehr nach dem Vorlesen „einfach unterschrieben“, waren die Formerfordernisse des § 581 ABGB aF nicht erfüllt.

 

 

Link zum Entscheidungstext

 

 

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