OGH-Entscheidung vom 21.11.2023, 3 Ob 9/23d

 

Sachverhalt:

Der Beklagte ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe. Bei einer Patientin stellte er eine Schwangerschaft fest. Das Erst-Trimester-Screening fiel unauffällig aus. Auch beim Organscreening zwei Monate später hielt der Beklagte in seinem Befund fest, dass u.a. die Extremitäten dargestellt werden konnten und unauffällig waren. Tatsächlich war bei diesem Organscreening auf den dokumentierten Bildern immer nur eine einzige obere Extremität zu sehen. Auch eine Ultraschall-Untersuchung wenige Wochen später zeigte (nur) einen Arm des Kindes. Dennoch teilte der Beklagte der Patientin mit, beide Arme und beide Füße des Fötus gesehen zu haben. Bei der Geburt zeigte sich, dass dem Kind eine Amelie vorliegt, das heißt es fehlt die linke obere Extremität, statt der lediglich eine rudimentäre Armknospe vorhanden ist.

In Österreich gelten verbindliche Standards für die Qualität des Ultraschalls in der Pränataldiagnostik. Die Extremitäten sind in der Frühschwangerschaft meist gut zu beurteilen. Sowohl im Rahmen des Erst-Trimester-Screenings als auch beim Organscreening soll geprüft werden, ob beide Arme und Hände vorhanden sind. Hätte der Beklagte bei der Untersuchung etwas länger gewartet, bis der Fötus seinen Körper etwas dreht, wäre das Fehlen der linken Extremität aufgefallen. Die diagnostischen Ultraschalluntersuchungen des Beklagten sowie die Fotodokumentation der fetalen Strukturen und Organsysteme war ungenügend.

Die Patientin und ihr Ehemann (die Kläger) hätten sich für eine Abtreibung entschieden, wenn sie gewusst hätten, dass ihrem Kind eine obere Extremität zur Gänze fehlt. Die Kläger begehren vom Beklagten Schadenersatz und die Feststellung seiner Haftung für alle künftigen Schäden aufgrund seines Untersuchungsfehlers. Der Beklagte hafte für den (gesamten) Unterhalt des Kindes seit seiner Geburt.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht verpflichtete den Beklagten zur Zahlung von EUR 76.000 und sprach aus, dass der Beklagte den Klägern für alle künftigen Vermögensschäden und Vermögensnachteile aufgrund des Untersuchungsfehlers sowie für den künftigen Unterhalt des Kindes haftet. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Der OGH entschied infolge der Revision des Beklagten in einem verstärkten Senat, dass der beklagte Arzt für den von den Eltern zu tragenden Unterhaltsaufwand für das Kind haftet:

Der Zweck eines Behandlungsvertrags besteht darin, einer Frau rechtzeitig jene Informationen zu liefern, die ihr im Fall drohender schwerwiegender Missbildungen des Fötus unter Berücksichtigung ihrer persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse die sachgerechte Entscheidung über einen Abbruch der Schwangerschaft ermöglichen. Erhält in einer solchen Konstellation die Schwangere die maßgeblichen Informationen aufgrund eines ärztlichen Fehlers nicht und kann sie sich deshalb nicht gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden, verwirklicht sich mit der Geburt des Kindes ein Fall, den eine Schwangere mit dem Abschluss des Behandlungsvertrags – für den Arzt auch erkennbar – verhindern will.

Ein Schadenersatzanspruch der Kläger setzt voraus, dass die Patientin bei gehöriger Aufklärung durch den Beklagten – rechtmäßig – einen Schwangerschaftsabbruch hätte vornehmen lassen können. Dies wäre hier der Fall gewesen: Da die Kläger diese Möglichkeit hier auch tatsächlich wahrgenommen hätten, wäre es bei pflichtgemäßer Diagnose und Beratung durch den Beklagten nicht zur Geburt des Kindes gekommen. In diesem Fall wäre den Klägern somit keinerlei Unterhaltsaufwand für dieses Kind entstanden. In dieser Konstellation kann schadenersatzrechtlich nur die Situation mit und ohne Kind verglichen werden, was aber eine Begrenzung des Ersatzanspruchs mit dem behinderungsbedingten Unterhaltsmehraufwand ausschließt. Zum Ersatz bloß des behinderungsbedingten Mehraufwands könnte man nämlich nur durch den Vergleich des behinderten Kindes mit einem – auf einer bloßen Fiktion beruhenden – gesunden Kind kommen, und diese Betrachtungsweise wäre sowohl schadenersatzrechtlich verfehlt als auch ein diskriminierender Denkansatz.

Es geht im vorliegenden Zusammenhang weder um ein „Recht der Eltern auf ein gesundes Kind“ noch darum, behinderten Menschen „das Lebensrecht abzusprechen“. Vielmehr ist das Recht der Eltern betroffen, autonom darüber entscheiden zu können, ob sie erstens überhaupt ein Kind wollen, und zweitens, ob sie angesichts ihrer gesamten Lebenssituation bereit sind und sich in der Lage sehen, ein behindertes Kind entsprechend seinen Bedürfnissen aufzuziehen. Ein solches „Recht auf kein Kind“ ist jedenfalls insoweit anzuerkennen, als der von Art 8 EMRK gewährleistete Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens auch das Recht auf Geburtenkontrolle und Familienplanung beinhaltet.

Denkt man das Fehlverhalten des Arztes weg, wäre das Kind nicht zur Welt gekommen, sodass schadenersatzrechtlich nur die Situation mit und ohne Kind verglichen werden kann.

Der OGH kam schließlich zu folgendem Ergebnis:

Sowohl bei einem medizinischen Eingriff, der die Empfängnisverhütung bezweckt (zB Vasektomie oder Eileiterunterbindung), als auch bei der Pränataldiagnostik sind die finanziellen Interessen der Mutter (der Eltern) an der Verhinderung der Empfängnis bzw – bei Vorliegen der embryopathischen Indikation – der Geburt eines Kindes vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrags umfasst.

Wäre das Kind bei fachgerechtem Vorgehen bzw ordnungsgemäßer Aufklärung nicht empfangen bzw nicht geboren worden, haftet der Arzt (unabhängig von einer allfälligen Behinderung des Kindes) insbesondere für den von den Eltern für das Kind zu tragenden Unterhaltsaufwand.

 

 

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