OGH-Entscheidung vom 19.5.2022, 3 Ob 36/22y

 

Sachverhalt:

Die Beklagte betreibt mehrere Bäckerei- und Bäckerei-Cafe-Filialen; diese werden teilweise als reine Bäckereifilialen und teilweise mit nahezu reinem Kaffeehausbetrieb betrieben. In der hier verfahrensgegenständlichen Filiale in einem Fachmarktzentrum wurden etwa 90 % der Umsätze über den Kaffeehausbetrieb erzielt. Bei Abschluss des Mietvertrages war durch die vorangegangenen Gespräche allen Beteiligten klar, dass eine reine Bäckerei im Fachmarktzentrum nicht überlebensfähig wäre und daher ein Kaffeehaus betrieben werden solle.

Während der Corona-Pandemie war das Betreten (ua) von Gastronomielokalen von 16. März bis 14. Mai 2020 und von 3. November 2020 bis 19. Mai 2021 untersagt; das Betreten von Betriebsstätten des Lebensmittelhandels jedoch gestattet. Die Beklagte schloss die verfahrensgegenständliche Filiale im Zeitraum von 17. März bis einschließlich 14. Mai 2020 zur Gänze. Sie sah die Filiale als Gastronomiebetriebsstätte an und ging daher davon aus, dass das Öffnen untersagt sei. Wegen der Lage gab es auch keine Laufkundschaft; ebenso war die Kundenfrequenz im Fachmarktzentrum stark verringert. Auch das Anbieten von „to-go-Produkten“ kam nicht in Frage. Die Etablierung eines Lieferservice wäre der Beklagten in kurzer Zeit ebenso nicht möglich gewesen.

Infolge der Geschäftsschließung zahlte die Beklagte für die Dauer der Lockdowns die Mietzinse (zunächst) nicht, weil das Bestandobjekt für sie nicht entsprechend der vertraglichen Vereinbarung nutzbar war. Die Beklagte stellte Anträge auf Umsatzersatz und erhielt auch eine Zahlung.

Die Vermieterin begehrte vor Gericht zuletzt EUR 16.070,30 an offenen (restlichen) Mietzinsen und einer Konventionalstrafe wegen Betriebspflichtverletzung sowie die geräumte Übergabe des Bestandobjekts.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.  Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Auch die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg.

Der OGH verwies zunächst auf seine früheren Entscheidungen, wonach die infolge der COVID-19-Pandemie erlassenen behördlichen Maßnahmen einen außerordentlichen Zufall iSd §§ 1104 f ABGB begründen (siehe hier, hier oder hier). Ist der bedungene Gebrauch des Bestandobjekts durch Kundenverkehr gekennzeichnet, so führt ein Betretungsverbot aus Anlass der COVID-19-Pandemie zur gänzlichen Unbenutzbarkeit des Bestandobjekts. Ist die vertragsgemäße charakteristische Nutzung dadurch hingegen nur eingeschränkt, kommt es zu einer Mietzinsminderung im Umfang der Gebrauchsbeschränkung.

Die Frage, ob (teilweise) Unbenützbarkeit des Bestandgegenstands vorliegt, ist nach dem Vertragszweck zu beurteilen. Für die Ermittlung des vereinbarten Geschäftszwecks ist jedoch nicht bloß auf den schriftlichen Mietvertrag abzustellen, sondern auch auf mündliche Vereinbarungen. Daran kann auch ein im Mietvertrag enthaltene Schriftformgebot nichts ändern, weil ein einverständliches Abgehen von der vereinbarten Schriftform sowohl ausdrücklich als auch stillschweigend jederzeit möglich und zulässig ist. Beiden Parteien ging es den mündlichen Absprachen zufolge primär um den Betrieb eines Kaffeehauses, insbesondere auch aufgrund des Standorts, wo eine reine Bäckerei wirtschaftlich nicht überlebensfähig gewesen wäre. Folglich war daher der Mietgegenstand während der für Gastronomiebetriebe geltenden Betretungsverbote nicht benützbar. Die Unbrauchbarkeit des Bestandobjekts wurde vom OGH anhand eines objektiven Maßstabs bejaht. Die objektiv bestehende Möglichkeit, ein Liefer- oder Abholservice anzubieten, kann zwar eine zumindest teilweise Brauchbarkeit des Geschäftslokals begründen; dem Mieter steht allerdings der Einwand offen, dass die Etablierung eines bisher nicht betriebenen Liefer- oder Abholservice nicht (sofort) zumutbar gewesen wäre. Unzumutbarkeit wird jedenfalls dann vorliegen, wenn – etwa aufgrund des fehlenden Kundenkreises – ein nachhaltiges Verlustgeschäft zu erwarten gewesen wäre. Im vorliegenden Fall wäre der Beklagten die Einrichtung eines Lieferservice in kurzer Zeit gar nicht möglich gewesen. Darüber hinaus hatten während der „Lockdowns“ sämtliche Bäckereien geöffnet, weshalb für potenzielle Käufer von Bäckereiwaren kein Anlass bestand, diese Produkte liefern zu lassen. Der OGH ging daher wie die Vorinstanzen von einer gänzlichen Unbrauchbarkeit des Bestandobjekts während der „Lockdowns“ aus.

Im Hinblick auf die den ausbezahlten Umsatzersatz, verwies der OGH darauf, dass es sich dabei um eine Förderung der betroffenen Unternehmer (Bestandnehmer) handelte, um deren Liquidität sicherzustellen, und nicht der Mietzinsentfall der Geschäftsraumvermieter wettgemacht werden soll. Im Übrigen konnte ein solcher Umsatzersatz für die Zeit des ersten „Lockdowns“ noch gar nicht beantragt werden.

 

 

Link zur OGH-Entscheidung

 

 

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