OGH-Entscheidung vom 21.10.2021, 3 Ob 78/21y

 

Sachverhalt:

Der Beklagte ist Eigentümer eines Hauses, in dem sich ebenerdig ein Geschäftslokal befindet. Die Klägerin betreibt dort ein Sonnenstudio. Das Bestandverhältnis unterliegt dem MRG. Nach Ankündigung der behördlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie war die Klägerin im April 2020 nicht im Geschäftslokal. Abgesehen von der Einrichtung befanden sich keine Fahrnisse der Klägerin im Bestandobjekt. Sie konnte dieses für den sonst üblichen Betrieb ihres Sonnenstudios nicht nutzen und verrichtete auch keine administrativen Tätigkeiten mehr im Geschäftslokal. Die Klägerin schrieb dem Beklagten am 1. April 2020, dass das Betretungsverbot auch für ihr Mietobjekt gelte, sie dieses daher derzeit nicht benutzen könne und sie wegen der geltenden Regelungen keinen Miet- und Pachtzins zu entrichten habe. Der Beklagte beantragte daraufhin die Exekution zur Räumung des Geschäftslokals. Das Erstgericht bewilligte am 18. Mai 2020 die Räumungsexekution.

Die Klägerin begehrte nun vor Gericht die Feststellung, dass sie im Zeitraum 1. April bis 30. April 2020 von der Entrichtung des Mietzinses zur Gänze befreit gewesen sei und das Exekutionsverfahren für unzulässig erklärt werden möge.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht gab der Klage statt. Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts. Der OGH befand die Revision des Beklagten für unberechtigt.

Die mit 16. März 2020 in Kraft getretene, auf der Ermächtigung des § 1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes beruhende, Regelung des § 1 der „Schließungsverordnung“ untersagte (mit Ausnahme bestimmter Bereiche der Grundversorgung) das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels und von Dienstleistungsunternehmen sowie von Freizeit- und Sportbetrieben. Dieses Betretungsverbot galt bis zum 30. April 2020. Das Geschäftslokal der Klägerin fiel unter keine der Ausnahmen. Im hier maßgeblichen Zeitraum 1. bis 30. April 2020 galt daher für das Geschäftslokal der Klägerin ein uneingeschränktes behördliches Betretungsverbot für ihren Kundenbereich.

Wenn die in Bestand genommene Sache wegen „außerordentlicher Zufälle“, namentlich (ua) wegen „Feuer, Krieg oder Seuche, großer Überschwemmungen (oder) Wetterschläge“, gar nicht gebraucht oder benutzt werden kann, so ist gemäß § 1104 ABGB kein Mietzins zu entrichten.

Zur Frage der Anwendbarkeit des § 1104 ABGB auf die von den Maßnahmen im Zuge der COVID-19-Pandemie betroffenen Bestandverhältnisse über Geschäftsräumlichkeiten wurde bereits umfassend wissenschaftlich diskutiert. Die wohl überwiegende Auffassung sieht einen Anwendungsfall des § 1104 ABGB. „Außerordentliche Zufälle“ im Sinn des § 1104 ABGB sind elementare Ereignisse, die von Menschen nicht beherrschbar sind, sodass für deren Folgen im Allgemeinen von niemandem Ersatz erwartet werden kann; diese Elementarereignisse treffen stets einen größeren Personenkreis auf eine Weise, die durch eine gesetzliche Regelung über Ersatzansprüche nicht ausgeglichen werden kann. Zu den Elementareignissen gehört die „Seuche“. Unter einer Seuche versteht man eine Infektionskrankheit, die infolge ihrer großen Verbreitung und der Schwere des Verlaufs eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Diese Definition trifft unzweifelhaft auf COVID-19 zu.

Für das Bestandobjekt bestand im April 2020 ein Betretungsverbot. In diesem Zeitraum konnte daher das Geschäftslokal „gar nicht gebraucht oder benutzt werden“. Dies erfüllt die Kriterien des § 1104 ABGB auch dann, wenn erst aus einer hoheitlichen Anordnung (Betretungsverbot) folgte, dass das für bestimmte Geschäftszwecke gemietete Objekt nicht genutzt werden durfte. Dies entspricht nämlich dem von der Rechtsprechung schon bisher vertretenen Verständnis zu § 1104 ABGB, nach dem auch aus Elementarereignissen resultierende hoheitliche Eingriffe einschlägig sein können.

Gemäß § 1104 ABGB war die Klägerin berechtigt, für diesen Monat den Bestandzins nicht zu leisten. Die auf die unterbliebene Zahlung des Bestandzinses (samt Betriebskosten) für April 2020 gestützte Räumungsexekution erwies sich daher als unzulässig, weil im Bewilligungszeitpunkt der dafür notwendige Zahlungsverzug nicht vorlag.

 

 

 

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