OGH-Entscheidung vom 7.9.2021, 1 Ob 158/21y

 

Sachverhalt:

Der Kläger ist Polizeibeamter. Bei der Durchsuchung eines Verdächtigen, riss sich dieser plötzlich los und rannte davon. Der Kläger nahm in der Dunkelheit die Verfolgung auf, wobei er in der Dunkelheit ein ausgeschwemmtes Loch auf einer Schotterstraße übersah und stürzte. Der Kläger verletzte sich bei seinem Sturz und klagte folglich auf Zahlung von Schadenersatz sowie Feststellung der Haftung des Beklagten für künftige Schäden.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht gab dem Zahlungsbegehren dem Grunde nach statt. Das Berufungsgericht gab hingegen der Berufung des Beklagten Folge und wies das Zahlungsbegehren ab. Der OGH erachtete die Revision des Klägers jedoch für zulässig und berechtigt.

Die Gefährdung absolut geschützter Rechtsgüter – und somit auch des Rechts auf körperliche Unversehrtheit – ist grundsätzlich verboten. Daraus ergeben sich Sorgfaltspflichten, die denjenigen treffen, der die Gefahr einer solchen Rechtsgutverletzung erkennen kann. Die Rechtswidrigkeit eines schädigenden Verhaltens wird im Wege einer Interessenabwägung geprüft.

Auch bei der Verletzung eines Polizisten bei der Verfolgung einer verdächtigen Person geht es regelmäßig um die Frage der Haftung für eine Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter. Nach höchstgerichtlicher Rechtsprechung haftet der Verfolgte, solange er seine Flucht nicht aufgegeben hat, nach den zur Schaffung einer Gefahrenlage entwickelten Grundsätzen. Rechtswidrigkeit setzt voraus, dass für das Polizeiorgan erkennbar eine gesteigerte Gefahrensituation geschaffen wurde, die (deutlich) über dessen allgemeines Lebensrisiko hinausgeht.

Im vorliegenden Fall hatte der Kläger berechtigte Gründe für den Verdacht, der Beklagte habe eine Straftat begangen. Angesichts seiner plötzlichen Flucht musste der Kläger eine unmittelbare Verfolgungsreaktion setzen und sein Augenmerk beim Laufen (im Dunkeln) darauf richten, den Beklagten nicht aus den Augen zu verlieren. Der Beklagte wählte bei seinem Fluchtversuch eine Route, die ihn auf kurzer Distanz über wechselndes Terrain führte. Durch die Verfolgung ergab sich eine vergleichsweise deutlich erhöhte Gefährdung für den Kläger. Dies musste dem Beklagten bewusst sein.

Der Oberste Gerichtshof führte darüber hinaus aus, dass es an einem allgemein anerkannten Interesse des einer Straftat Verdächtigen an der Flucht fehlt, weil ein solches Verhalten von der Allgemeinheit missbilligt wird. Das Recht, nicht (aktiv) an der Beschaffung von Beweisen gegen sich selbst mitwirken zu müssen, kann keinesfalls so weit gehen, dass deshalb eine durch einen Flucht(-versuch) bewirkte und für den Flüchtenden erkennbare (deutliche) Gefahrenerhöhung für den verfolgenden Polizisten gerechtfertigt wäre.

Der OGH gab der Revision daher Folge und stellte Urteil des Erstgerichts wieder her.

 

 

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