OGH-Entscheidung vom 22.9.2020, 4 Ob 135/20m

 

Sachverhalt:

Die Streitteile stehen durch die Herstellung und den Vertrieb von Schnelldiagnostika (In-vitro-Diagnosetests, Schwangerschafts- und Ovulationstests) im Wettbewerbsverhältnis. Die Produkte der Beklagten werden einem internen und externen regulatorischen Prüfungsverfahren unterzogen. Für die verfahrensrelevanten Produkte wurde der Beklagten eine EG-Konformitätserklärung ausgestellt. Auf den Produkten ist ein CE-Kennzeichen angebracht sowie die Nummer der benannten Stelle (der Zertifizierung).

Die Klägerin begehrt, der Beklagten zu verbieten, Medizinprodukte ohne ausreichende Information über eine sichere Anwendung in Verkehr bringen zu lassen, insbesondere wenn auf der Stückpackung und in der Gebrauchsanweisung Informationen und konkrete Angaben fehlten. Die Klägerin stützte ihre Klage auf § 1 UWG (Rechtsbruch) und warf der Beklagten einen Verstoß gegen §§ 9 ff MPG iVm § 6 Z 1 MPG vor.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht wies die Klage ab. Auch das Berufungsgericht gab dem Begehren der Klägerin nicht Folge. Der OGH befand die Revision der Klägerin zwar für zulässig, aber nicht berechtigt.

Der OGH fasste zunächst zusammen, dass ein Verstoß gegen eine generelle Norm nach der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich (nur) dann als unlautere Geschäftspraktik oder als sonstige unlautere Handlung iSv § 1 Abs 1 Z 1 UWG zu werten ist, wenn die Norm nicht auch mit guten Gründen in einer Weise ausgelegt werden kann, dass sie dem beanstandeten Verhalten nicht entgegensteht. Daher war zu prüfen, ob die Rechtsansicht der Beklagten vertretbar ist, dass der Verkäufer von In-vitro-Diagnostika bzw Medizinprodukten allein wegen der aufrechten Zertifizierung von der Einhaltung der relevanten Bestimmungen des Medizinproduktegesetzes ausgehen kann. Der OGH bejahte dies aus folgenden Gründen:

Laut EuGH ist davon auszugehen, dass Medizinprodukte, die den harmonisierten Normen entsprechen und gemäß den Verfahren der Richtlinie zertifiziert worden sind, diese grundlegenden Anforderungen erfüllen und sich für ihren Verwendungszweck eignen. Zu diesem Zweck müssen nach Art 16 Abs 1 RL 98/79/EG grundsätzlich alle Produkte, von deren Übereinstimmung mit den grundlegenden Anforderungen gemäß Art 3 auszugehen ist, bei ihrem Inverkehrbringen mit einer CE-Kennzeichnung versehen sein. Art 4 Abs 1 der Richtlinie verbietet es den Mitgliedstaaten, das Inverkehrbringen von Produkten mit der CE-Kennzeichnung zu behindern, wenn diese einer Konformitätsbewertung nach Art 9 unterzogen worden sind. Der EuGH hielt fest, dass die in der Richtlinie normierte Kombination aus Schutzverfahren sowie Beobachtungs- und Meldeverfahren es ermöglicht, die Gesundheit und Sicherheit der Betroffenen zu schützen und dabei die Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs zu begrenzen.

Die Vermutung, dass ein Produkt mit einer CE-Kennzeichnung den normativen Anforderungen entspricht, findet sich in § 22 Abs 1 MPG. Nach dem MPG darf die CE-Kennzeichnung wegen ihrer entscheidenden rechtlichen Bedeutung im Regelungssystem für Medizinprodukte nur von den Personen angebracht werden, die in den Anhängen der Medizinprodukterichtlinien zur Konformitätsbewertung hierzu autorisiert sind.

Aus dem MPG lässt sich aber auch ableiten, dass diese Konformitätsvermutung widerlegbar ist. Produkte dürfen nach § 6 MPG nicht in Verkehr gebracht werden, wenn der „begründete Verdacht“ besteht, dass sie die grundlegenden Anforderungen des MPG nicht erfüllen. Von der Thematik, dass die Vermutung widerlegbar ist, ist aber der Umstand zu trennen, auf welche Weise sich die Widerlegung manifestieren kann.

Insoweit sich die Klägerin auf das Fehlen höchstgerichtlicher Rechtsprechung zu den rechtlichen Auswirkungen eines Zertifizierungsverfahrens und des CE-Zeichens (§§ 15 und 22 MPG) auf die Anforderungen an die Medizinprodukte (§§ 6, 8 und 9 MPG) beruft, spricht die fehlende Rechtsprechung nicht gegen, sondern gerade für die Vertretbarkeit des Standpunkts der Beklagten.

Unter Berücksichtigung des Rechtsbestands, der Rechtsprechung des EuGH, der Literaturmeinungen und des Fehlens österreichischer Rechtsprechung, erweist sich der Rechtsstandpunkt der Beklagten, dass sie im Hinblick auf die Vermutung der aufrechten CE-Kennzeichnung davon ausgehen durfte, die von ihr vertriebenen Produkte entsprächen den Anforderungen des MPG, daher als vertretbar. Ein Rechtsbruch wurde daher wegen lauterkeitsrechtlicher Vertretbarkeit verneint.