EuGH-Urteil vom 8.10.2020, Rechtssache C‑641/19

 

Sachverhalt:

Die PE Digital GmbH aus Deutschland betreibt die Partnervermittlungs-Website „Parship“ (www.parship.de). Sie bietet ihren Nutzern zwei Formen der Mitgliedschaft an, nämlich die kostenlose Basis-Mitgliedschaft sowie die zahlungspflichtige Premium-Mitgliedschaft. Zur Premium-Mitgliedschaft gehört insbesondere die sogenannte Kontaktgarantie, mit der das Zustandekommen einer bestimmten Anzahl von Kontakten zu anderen Nutzern garantiert wird.

Für jedes Mitglied wird unmittelbar nach der Anmeldung eine Auswahl von Partnervorschlägen erstellt. Premium-Mitglieder erhalten zudem ein computergeneriertes 50-seitiges „Persönlichkeitsgutachten“.

2018 schloss eine Verbraucherin einen Vertrag über eine Premium-Mitgliedschaft für zwölf Monate zu einem Preis von 523,95 Euro. PE Digital belehrte die Verbraucherin über ihr Widerrufsrecht, und diese bestätigte, dass mit der vertraglichen Leistung vor Ablauf der Widerrufsfrist begonnen werden soll. Die Verbraucherin widerrief den Vertrag 4 Tage später. PE Digital stellte daraufhin einen Betrag von insgesamt 392,96 Euro als Wertersatz in Rechnung. Die Verbraucherin klagte daraufhin auf Rückzahlung sämtlicher bezahlter Beträge beim Amtsgericht Hamburg. Dieses setzte das Verfahren aus und legte es dem EuGH vor.

 

Entscheidung:

Der EuGH hielt zunächst fest, dass ein Verbraucher, der vom Unternehmer den Beginn der Vertragsausführung vor Ablauf der Widerrufsfrist verlangt hat und in weiterer Folge sein Widerrufsrecht ausübt, gem Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2011/83 (Verbraucherrechterichtlinie) dem Unternehmer „einen Betrag [zu zahlen hat], der verhältnismäßig dem entspricht, was bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der Verbraucher den Unternehmer von der Ausübung des Widerrufsrechts unterrichtet, im Vergleich zum Gesamtumfang der vertraglich vereinbarten Leistungen geleistet worden ist“.

Dieser anteilige Betrag ist unter Berücksichtigung aller Leistungen zu berechnen, die Gegenstand des Vertrags sind, d. h. der Hauptleistung und der Nebenleistungen.

Nur wenn der Vertrag ausdrücklich vorsieht, dass eine oder mehrere der Leistungen gleich zu Beginn der Vertragsausführung vollständig und gesondert zu einem getrennt zu zahlenden Preis erbracht werden, kann der Verbraucher sachgerecht entscheiden, ob er ausdrücklich verlangen soll, dass der Unternehmer mit der Ausführung der Dienstleistung während der Frist für die Ausübung des Widerrufsrechts beginnt. Nur in einem solchen Fall ist bei der Berechnung des zu bezahlenden Betrages der volle vorgesehene Preis zu berücksichtigen.

Im vorliegenden Fall sah der in Rede stehende Vertrag aber keinen gesonderten Preis für irgendeine (abtrennbare) Leistung vor.

Der EuGH beantwortete die Vorlagefragen daher dahingehend, dass im Falle eines Widerrufs während der Widerrufsfrist, obwohl die Zustimmung zur sofortigen Ausführung der Leistung erteilt wurde, der von der Verbraucherin geschuldete Betrag zeitanteilig zu berechnen ist. Nur wenn der Vertrag ausdrücklich vorsieht, dass eine Leistung gleich zu Beginn der Vertragsausführung vollständig und gesondert zu einem getrennt zu zahlenden Preis erbracht werden, ist volle Preis zu berücksichtigen.

Für den vorliegenden Fall ist daher davon auszugehen, dass (sofern das Amtsgericht Hamburg dem EuGH folgt) die klagende Verbraucherin lediglich für 4 Tage Mitgliedschaft bezahlen muss.

Darüber hinaus beantwortete der EuGH die Frage, nach welchen Kriterien zu beurteilen ist, ob der Gesamtpreis überhöht ist: Demnach sind für die Beurteilung alle Umstände in Bezug auf den Marktwert der erbrachten Dienstleistung relevant, insbesondere Preise anderer Unternehmen für gleichwertige Leistungen.

Zuletzt nahm der EuGH zu einer Ausnahme vom Widerrufsrecht Stellung: Gemäß Art. 16 Buchst. m der Richtlinie 2011/83 können Verbraucher solche Verträge nicht widerrufen, die eine Lieferung von (nicht auf einem körperlichen Datenträger gelieferten) digitalen Inhalten betreffen. „Digitale Inhalte“ werden als „Daten, die in digitaler Form hergestellt und bereitgestellt werden“ definiert.

Im Hinblick auf das bereitgestellte Persönlichkeitsgutachten von Parship stellte sich die Frage, ob Verbraucher ihr Widerrufsrecht verlieren, wenn die Ausführung der Lieferung digitaler Inhalte mit vorheriger ausdrücklicher Zustimmung des Verbrauchers und seiner Kenntnisnahme, dass er hierdurch sein Widerrufsrecht verliert, begonnen hat.

Der EuGH legte Art. 16 Buchst. m eng aus und kam zu dem Ergebnis, dass keine Lieferung „digitaler Inhalte“ Vertragsgegenstand war. Dienstleistungen, die dem Verbraucher die Erstellung, Verarbeitung oder Speicherung von Daten in digitaler Form oder den Zugang und die gemeinsame Nutzung solcher Daten mit anderen Nutzern ermöglichen, fallen demnach nicht unter diese Bestimmung. Auch die Erstellung eines Persönlichkeitsgutachtens fällt nicht unter diese Ausnahme vom Widerrufsrecht. Die Verbraucherin konnte daher auch unter diesem Aspekt den Vertrag widerrufen.