Urteil des EuGH vom 19. Juni 2014, Rechtssachen C‑217/13 und C‑218/13

Sachverhalt:

Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband e. V. (DSGV) meldete 2002 eine konturlose Marke in Rot für eine Reihe von Waren und Dienstleistungen an. Nach einer Zurückweisung der Anmeldung durch das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) schränkte DSGV das Waren- und Dienstleistungsverzeichnis ein und legte ein demoskopisches Gutachten vor, wonach sich die fragliche Marke in den beteiligten Verkehrskreisen mit einem Zuordnungsgrad von 67,9 % durchgesetzt habe. Die Marke wurde daher für Dienstleistungen der Klasse 36 eingetragen, die in erster Linie verschiedenen Finanzdienstleistungen im Bereich des Retail-Bankings entsprechen.

2008 beantragte die österreichische Oberbank AG die Ungültigerklärung der Marke aufgrund fehlender Unterscheidungskraft. 2009 beantragte auch die spanische Santander-Gruppe aus demselben Grund die Ungültigerklärung. Das DPMA wies beide Anträge zurück.

Das deutsche Bundespatentgericht legte schließlich dem EuGH die Fragen zur Vorabentscheidung vor,

  • ob bei einer wie der in Frage stehenden Marke eine Verbraucherbefragung einen Zuordnungsgrad von mindestens 70 % ergeben muss, damit angenommen werden kann, dass die Marke infolge ihrer Benutzung Unterscheidungskraft erlangt hat,
  • ob es dann auf den Zeitpunkt der Anmeldung der Marke – und nicht auf den Zeitpunkt ihrer Eintragung – ankommt und
  • ob eine Marke bereits dann für ungültig zu erklären ist, wenn ungeklärt ist und nicht mehr geklärt werden kann, ob sie zum Zeitpunkt der Anmeldung infolge ihrer Benutzung Unterscheidungskraft erlangt hat? Oder setzt die Ungültigerklärung voraus, dass durch den Nichtigkeitsantragsteller nachgewiesen wird, dass die Marke zum Zeitpunkt der Anmeldung keine Unterscheidungskraft infolge ihrer Benutzung erlangt hat?

Entscheidung:

Der EuGH sprach im Rahmen seiner Urteilsbegründung aus, dass im Rahmen der Prüfung, ob eine Marke infolge Benutzung Unterscheidungskraft erworben hat, insbesondere der Marktanteil der betreffenden Marke, die Intensität, geografische Verbreitung und Dauer ihrer Benutzung, der Werbeaufwand des Unternehmens für die Marke, der Anteil der beteiligten Verkehrskreise, der die Ware oder Dienstleistung aufgrund der Marke als von einem bestimmten Unternehmen stammend erkennt, sowie Erklärungen von Industrie- und Handelskammern oder anderen Berufsverbänden berücksichtigt werden können.

Gelangt die zuständige Behörde aufgrund dieser Gesichtspunkte zu der Auffassung, dass die beteiligten Verkehrskreise oder zumindest ein erheblicher Teil von ihnen die Ware oder Dienstleistung aufgrund der Marke als von einem bestimmten Unternehmen stammend erkennen, muss sie daraus jedenfalls den Schluss ziehen, dass die Marke nicht von der Eintragung ausgeschlossen oder für ungültig erklärt werden darf.

Daraus folgt, dass nicht allgemein, beispielsweise unter Heranziehung bestimmter Prozentsätze des Zuordnungsgrads der Marke in den beteiligten Verkehrskreisen, angegeben werden kann, wann eine Marke infolge Benutzung Unterscheidungskraft erworben hat, und dass auch bei konturlosen Farbmarken wie denen der Ausgangsverfahren, das Ergebnis einer solchen Verbraucherbefragung nicht den allein maßgebenden Gesichtspunkt darstellen darf, der den Schluss zulässt, dass eine infolge Benutzung erworbene Unterscheidungskraft vorliegt.

Art. 3 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2008/95 ist daher dahingehend auszulegen, dass er einer Auslegung des nationalen Rechts entgegensteht, wonach es in Verfahren, in denen fraglich ist, ob eine konturlose Farbmarke infolge ihrer Benutzung Unterscheidungskraft erworben hat, stets erforderlich ist, dass eine Verbraucherbefragung einen Zuordnungsgrad dieser Marke von mindestens 70 % ergibt. Eine starre Untergrenze von mindestens 70% würde sohin das Unionsrecht verletzen.

Zu prüfen ist aber, ob die Unterscheidungskraft vor der Anmeldung der Marke erworben wurde. Unerheblich ist insoweit, dass der Inhaber der streitigen Marke geltend macht, sie habe jedenfalls nach der Anmeldung, aber noch vor ihrer Eintragung infolge ihrer Benutzung Unterscheidungskraft erlangt. Die streitige Marke kann daher im Rahmen eines Löschungsverfahrens für ungültig erklärt werden, sofern sie nicht originär unterscheidungskräftig ist und ihr Inhaber nicht den Nachweis erbringen kann, dass die Marke vor der Anmeldung infolge ihrer Benutzung Unterscheidungskraft erlangt hatte.

Gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 1 der RL können die Mitgliedstaaten aber vorsehen, dass die vorliegende Bestimmung auch dann gilt, wenn die Unterscheidungskraft erst nach der Anmeldung oder Eintragung erworben wurde. Dies ist im (hier relevanten) deutschen Markenrecht der Fall. Demnach darf eine  Marke nicht mehr gelöscht werden, sofern zumindest im Zeitpunkt der Entscheidung über den Löschungsantrag Verkehrsdurchsetzung vorliegt.

Das deutsche Bundespatentgericht hat nun darüber zu entscheiden, ob sich die Farbe Rot tatsächlich für Dienstleistungen des DSGV im Bereich des Retail-Banking im Verkehr durchgesetzt hat.