OGH-Entscheidung vom 12.8.2020, 4 Ob 77/20g

 

Sachverhalt:

Die Klägerin ist ein österreichisches Unternehmen mit Sitz in Wien, das Elastomer-Werkstoffe und flexible Gummi-/Metallkomponenten, insbesondere sogenannte „M1-Komponenten“, entwickelt und herstellt, die in Schienenfahrzeugen verwendet werden.

Die Beklagte ist eine europäische Normungsorganisation. Sie ist auf europäischer Ebene für die Ausarbeitung harmonisierter technischer Normen für den Brandschutz in Schienenfahrzeugen zuständig. Die EN 45545-2 ist die aktuell gültige Norm. Im Rahmen der Normenrevision erstellte die Beklagte einen überarbeiteten Entwurf, der den Mitgliedern der Beklagten zur formellen Abstimmung vorgelegt werden sollte.

Die Klägerin beantragte die Erlassung einer einstweiligen Verfügung, mit der der Beklagten verboten werden solle, eine Abschwächung der Brandschutzanforderungen der EN 45545-2 zu bewirken, insbesondere den Text des Normentwurfs zur formellen Abstimmung zu verteilen. Die angestrebte Normenänderung sei unzulässig, weil damit eine Absenkung der Brandschutzanforderungen für M1-Komponenten einhergehe und dies sei für die Klägerin mit erheblichen Nachteilen verbunden sei, weil ihr technischer Vorsprung dadurch verloren gehe. Die Absenkung des Brandschutzniveaus erfolge zu Gunsten der anderen Hersteller von Schienenfahrzeugen. Dadurch werde der Wettbewerb unlauter beeinflusst.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht wies den Sicherungsantrag ab. Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch scheitere schon am fehlenden Tatbestandsmerkmal des Handelns im geschäftlichen Verkehr. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Das beanstandete Verhalten der Erstbeklagten sei Teil eines Rechtsetzungsakts auf europäischer Ebene und kein Handeln im geschäftlichen Verkehr. Der OGH befand den Revisionsrekurs der Klägerin zwar für zulässig, aber nicht berechtigt. Aus der Begründung:

Das Hauptargument der Klägerin, dass die Erstbeklagte privatrechtlich organisiert sei und privatwirtschaftlich handle, weshalb keine hoheitliche Tätigkeit vorliege und für die lauterkeitsrechtliche Beurteilung die Grundsätze für das privatwirtschaftliche Handeln der öffentlichen Hand maßgebend seien, treffe nicht zu. Der OGH führte hierzu aus, dass keine marktbezogene wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt, wenn staatliche oder supranationale Organe in Wahrnehmung ihrer gesetzlichen oder statutarischen Befugnisse ihre typischen Aufgaben erfüllen und die Verfolgung öffentlicher Interessen oder Ziele eindeutig im Vordergrund steht.

Die Erstbeklagte ist als europäische Normungseinrichtung tätig, die in den unionalen Gesetzgebungsprozess eingebunden ist. Die Normungstätigkeit erfolgt auf der Grundlage von Richtlinien. Auf der Grundlage dieser Richtlinie beauftragt die Europäische Kommission eine anerkannte privatrechtliche Normungseinrichtung mit der Ausarbeitung (Vorbereitung) einer harmonisierten technischen Norm (EN). Für die Veröffentlichung einer Norm muss das in der Richtlinie vorgesehene Verfahren eingehalten werden. Mit der Veröffentlichung wird sie zur unionsrechtlichen Durchführungsmaßnahme der Europäischen Kommission und damit zum (tertiären) Unionsrecht. Ihre Rechtswirkungen erlangen harmonisierte technische Normen dadurch, dass in (anderen) unionsrechtlichen oder nationalen Rechtsakten auf die harmonisierten Normen verwiesen wird.

Die vereinheitlichte europäische Normung unter der Ägide der Europäischen Kommission verfolgt ausschließlich öffentliche Zielsetzungen. Damit unterliegt die Normungstätigkeit der Beklagten – mangels eines Handelns im geschäftlichen Verkehr – nicht der lauterkeitsrechtlichen Kontrolle. Der Durchführungsrechtsakt ist der Europäischen Kommission zuzurechnen. Bei behaupteter Rechtswidrigkeit kommt allenfalls eine unionsrechtliche Organhaftung, aber keine lauterkeitsrechtliche Verhaltenskontrolle in Betracht.

Die Frage, ob der revidierte Entwurf der Erstbeklagten zur EN 45545-2 den Stand der Technik missachtet, bezieht sich nicht auf das Tatbestandsmerkmal des Handelns im geschäftlichen Verkehr und war daher unbeachtlich.