OGH-Entscheidung vom 16.9.2020, 6 Ob 100/20d

 

Sachverhalt:

Im Jahr 2017 erschien das Buch „Stille Machtergreifung. Hofer, Strache und die Burschenschaften“. Das Buch beschäftigt sich mit der Rolle rechtsextremer Burschenschaften innerhalb der FPÖ sowie mit engen Verbindungen von Norbert Hofer und Heinz-Christian Strache mit diesen Burschenschaften.

Der Autor (hier Erstbeklagter) publiziert politische Sachbücher, darunter ca 50 Bücher und Beiträge über Rechtsextremismus, und hielt zum Thema rund 150 Vorträge an Universitäten und diversen Bildungsanstalten. Die Verlegerin ist Zweitbeklagte.

Der Kläger ist als selbständiger Journalist tätig. Mit rund 16 Jahren kam er in die Neonazi-Szene, war bis zur Matura als Neonazi aktiv und erhielt mit 16 oder 17 Jahren eine Verwaltungsstrafe wegen Schwarzplakatierens von „Ausländer-raus-Aufklebern“. Bis ca 1987 war er Referent auf diversen rechtsextremen Veranstaltungen. Nach seiner Matura war er zunächst als Journalist im Umfeld der FPÖ in der Landtagsberichterstattung tätig und publizierte u.a. in den „Kärntner Nachrichten“, im deutschen Medium „Junge Freiheit“ sowie generell im politisch rechtem Umfeld („Aula“, „Identität“, „Nationen Europa“). Der Kläger hatte sich auch zwei- oder dreimal mit der von Gerd Honsik gegründeten NF getroffen und sich dieser anschließen wollen. Mitglied der VAPO war der Kläger aber nie. Gottfried Küssel begegnete er zwei- oder dreimal bei diversen Treffen und Vortragsveranstaltungen. Verurteilungen wegen eines Gewaltdelikts oder Verstoßes gegen das Verbotsgesetz gab es keine.

Der Kläger wurde in der ersten und zweiten Auflage mit vollem Namen, in der dritten Auflage nur mit den Initialen bezeichnet. Über den Kläger war unter anderem zu lesen, dass dieser der damals radikalste Führer der Neonazi-Szene und Aktivist der gewaltbereitesten Gruppierungen Österreichs gewesen sei und er gemeinsame Sache mit der VAPO, Gottfried Küssel und Gerhard Honsiks Nationaler Front (NF) mache. Er sei stellvertretender Führer der NF gewesen und habe neonazistisches Propagandamaterial verteilt, etc.

Der Kläger begehrte vor Gericht unter anderem die Unterlassung o.g. Behauptungen sowie Löschung/Schwärzung seines Namens in dem beanstandeten Buch.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht gab der Klage teilweise statt. Das Berufungsgericht gab der Berufung sowohl des Klägers als auch der Beklagten teilweise Folge. Der OGH befand die Revision der Beklagten aus Gründen der Rechtssicherheit für zulässig und auch teilweise berechtigt.

Der OGH hielt eingangs fest, dass im vorliegenden Fall die Persönlichkeitsrechte des Klägers (konkret das Rechtsgut der Ehre bzw das Recht auf Namensanonymität und Achtung der Privatsphäre), das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Freiheit der Wissenschaft berührt sind. Das Spannungsverhältnis zwischen den betroffenen Rechten sei im Wege einer umfassenden Interessenabwägung zu lösen:

 

Zur Meinungs- und Pressefreiheit führte der OGH aus, dass die öffentliche Vermittlung und Kommunikation wahrer Tatsachen von allgemeinem Interesse zu den elementaren Aufgaben einer freien Presse gehört. Voraussetzung einer freien Presse ist es, selbst zu entscheiden, was berichtenswert ist und wie berichtete Umstände miteinander verknüpft, bewertet und zu einer Aussage verwoben werden. Die Interessenabwägung muss regelmäßig schon dann zugunsten der Berichterstattung ausfallen, wenn nicht überwiegende Gründe deutlich dagegensprechen. Die Furcht vor rechtlichen Konsequenzen aufgrund nicht ausreichend klarer Rechtslage darf die unverzichtbare Rolle der Presse als „öffentlicher Wachhund“ nicht gefährden.

Eine Überspannung des Schutzes der Persönlichkeitsrechte würde zu einer unerträglichen Einschränkung der Interessen anderer und jener der Allgemeinheit führen. Die Mitteilung wahrer Tatsachen mit Sozialbezug ist grundsätzlich hinzunehmen. Verboten sind aber schwerwiegende Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht, insbesondere Stigmatisierung und Ausgrenzung. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelt jedoch kein Recht, in der Öffentlichkeit so dargestellt zu werden, wie es dem eigenen Selbstbild und der beabsichtigten öffentlichen Wirkung entspricht.

Der Persönlichkeitsschutz von Politikern ist insofern eingeschränkt, als die Grenzen der zulässigen Kritik bei ihnen weiter gezogen sind als bei Privatpersonen, weil sie sich unweigerlich und wissentlich der eingehenden Beurteilung ihrer Worte und Taten durch die Presse und die Öffentlichkeit aussetzen. Entsprechendes hat nach der Judikatur des EGMR für Privatpersonen zu gelten, sobald sie die politische Bühne, also die Arena der politischen Auseinandersetzung, betreten. Das gilt auch für den Kläger, der nicht nur als Heranwachsender in den 80er-Jahren, sondern insbesondere auch noch in der Folgezeit als Journalist bis zum Ende der 1990er-Jahre versucht hat, den politischen Diskurs in Österreich mit extremistischen Positionen mitzubestimmen.

Zu berücksichtigen ist auch der Umstand, dass der Kläger selbst gar nicht im Fokus des Buches steht. Zudem haben sich bereits mehrere Sachbücher über Rechtsextremismus mit der Person des Klägers und seiner einschlägigen Vergangenheit auseinandergesetzt Die Beklagten veröffentlichten daher keine Informationen über den Kläger, die nicht ohnehin bereits allgemein zugänglich waren.

Zum Resozialisierungsinteresse des Klägers führte der OGH aus, dass mit zeitlicher Distanz zur Straftat das Interesse des Täters, von einer Reaktualisierung seiner Verfehlung verschont zu bleiben zwar zunehmende Bedeutung gewinnt, das allgemeine Persönlichkeitsrecht Straftätern jedoch keinen Anspruch darauf vermittelt, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr mit ihrer Tat konfrontiert zu werden. Das Resozialisierungsinteresse bedeutet auch nicht, dass Tat und Täter nicht Gegenstand historischen Interesses oder wissenschaftlicher Analyse werden dürfen. Bei der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts ist zweifellos das allgemein politische Interesse betroffen. Zudem leistet die Berichterstattung einen Beitrag zur Meinungsbildung in einer demokratischen Gesellschaft. Im vorliegenden Fall bestand ein konkreter berechtigter Anlass (Präsidentschaftswahlkampf), die extremistische Vergangenheit des Klägers in den inkriminierten Textpassagen des Buches zu thematisieren, als die Beklagten darauf abzielten, eine öffentliche Debatte über allfällige Verstrickungen von Burschenschaften und führender FPÖ-Politiker zum rechtsextremen Milieu anzufachen.

Ob öffentliche Berichterstattungsinteresse durch Zeitablauf weniger akut werden kann, ist bei einer neuerlichen Berichterstattung anhand des Anlasses der jeweiligen Berichterstattung zu bemessen. Andernfalls könnte man etwa über Fehltritte, Ansichten oder Äußerungen von Politikern und anderen öffentlich bekannten Personen nicht berichten. Eine aktiv in die Öffentlichkeit tretende und dort kontinuierlich präsente Person kann nicht in derselben Weise wie eine Privatperson verlangen, dass ihr vergangenes Verhalten nicht mehr Gegenstand öffentlicher Erörterung wird. Diskreditierende Vorgänge der Vergangenheit dürfen dem Betroffenen zwar nicht in jedem Fall ein Leben lang öffentlich vorgehalten werden, im vorliegenden Fall bildete aber der Präsidentschaftswahlkampf einen berechtigten Anlass, sich auch mit dem Kläger als Teil des Umfelds eines Präsidentschaftskandidaten näher auseinanderzusetzen.

Zu den konkret beanstandeten Äußerungen im Einzelnen führte der OGH (zusammengefasst) aus, dass die jeweils inkriminierten Passagen im Gesamtzusammenhang gesehen werden müssen und die beanstandeten Werturteile auf einem ausreichend wahren Tatsachenkern beruhen. Dem Kläger werde gerade kein Gewaltdelikt vorgehalten, vielmehr bezieht sich die Zuschreibung der Gewaltbereitschaft auf bestimmte Gruppierungen. Die inkriminierten Äußerungen beruhen im Wesentlichen auf einem wahren Tatsachenkern; ein Wertungsexzess liegt nicht vor. Der Autor hat seine journalistische Sorgfaltspflicht gewahrt.

Auch für die Äußerung, wonach der Kläger der gewaltbereiten VAPO von Gottfried Küssel nahe gestanden sei und mit diesem gemeinsame Sache gemacht habe sah der OGH eine ausreichende Faktenbasis. Ebenso für die Äußerung, der Kläger habe gemeinsame Sache mit der gewaltbereiten Nationalen Front des Gerd Honsik gemacht. Zur Behauptung, der Kläger sei wegen Wiederbetätigung strafrechtlich verurteilt worden, führte der OGH aus, dass es sich um eine Tatsachenbehauptungen handelt, die einem Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Die inkriminierte Äußerung sei jedoch nicht dahin zu verstehen, dass der Kläger gerichtlich verurteilt wurde. Vielmehr bezeichnet die inkriminierte Passage zutreffend das Verwaltungsdelikt, dessentwegen über den Kläger eine Geldstrafe verhängt wurde. Die inkriminierte Behauptung trifft daher zu.

Insgesamt änderte der OGH die Urteile der Vorinstanzen dementsprechend ab. Die Beklagten wurden nur dahingehend schuldig gesprochen, es zu unterlassen, über den Kläger die Behauptung zu verbreiten, dass dieser neonazistisches Propagandamaterial mit dem Text „Alle Lehrer Österreichs, die mit ihren Schülern nach Mauthausen pilgern, um dem Gasbetrug zu huldigen, werden, wenn wir die Macht gewinnen, durch ein Gesetz mit rückwirkender Kraft zu Verbrechern erklärt und solange am Halse aufgehängt, bis dass der Tod eintritt“ verteilt habe. Diese Behauptung mussten die Beklagten widerrufen.