OGH-Entscheidung vom 12.12.2018, 15 Os 86/18p (15 Os 134/18x)

Sachverhalt:

Der Antragsteller ist seit 1991 „Allgemeinarzt“ und betrieb bis Anfang 2017 die größte Ordination in der Steiermark. Weiters war der Antragsteller als Notarzt und Skiarzt bei der österreichischen Ski-Nationalmannschaft tätig. Der Antragsteller ist Bruder des derzeitigen Obmanns des ÖVP-Parlamentsklubs. Er selbst war aber nie politisch aktiv oder trat auch sonst nicht medial gegenüber einer größeren Öffentlichkeit in Erscheinung.

Der Antragsteller beanstandete mehrere Artikel einer Tageszeitung, die in kurzer Abfolge zwischen Mitte Jänner und Anfang Februar 2017 veröffentlicht wurden. Leser konnten diesen Artikeln (zusammengefasst) entnehmen, dass sich der Antragsteller als tätiger Arzt Selbstverletzungen zufüge. Jetzt stehe er aber vor Gericht, weil er seine eigenen Kinder über Jahre hinweg physisch und insbesondere psychisch gequält haben soll (so ua durch die wiederholte Ankündigung, sich selbst zu erhängen oder zu erschießen). Dabei habe er sogar Medikamente und illegale Drogen verwendet. Trotz biederer Erscheinung des Antragstellers vor Gericht habe er noch ein außereheliches Verhältnis geführt, und auch in diesem Zusammenhang gebe es Ermittlungen gegen den Antragsteller; so seien Nacktfotos der Tochter der Geliebten im Internet aufgetaucht. Die Ex-Geliebte habe dem Antragsteller mehrfach vorgeworfen, sie vergewaltigt und bedroht zu haben. Doch alle ihre Anzeigen seien eingestellt worden. Der Vater der Ex-Geliebten soll sich mit einem Schuss in den Kopf umgebracht haben und die Waffe habe dem Antragsteller gehört. Die Ex-Geliebte und ein weiterer Verwandter glaubten nicht an den Suizid. Der Antragsteller habe auch mit einer Schulkollegin seiner Töchter ein außereheliches Verhältnis gehabt. Zudem bestehe der Verdacht, dass es Interventionen von Politikern zu Gunsten des Antragstellers gegeben habe. Schließlich wurde berichtet, dass nun einerseits von den zuständigen Behörden reagiert worden sei, und der Antragsteller seinen Beruf als Arzt nicht mehr ausübe, aber andererseits seine Patienten, trotz aller Vorwürfe, hinter dem Antragsteller stehen und ihn unbedingt als Arzt zurück haben wollen.

Der Antragsteller beantragte, der Medieninhaberin die Zahlung einer Entschädigung aufzuerlegen.

 

Entscheidung:

Das Erstgericht erachtete den Tatbestand des § 7a Abs 1 Z 2 MedienG für nicht erfüllt, weil ein überwiegendes Veröffentlichungsinteresse an der Identität des Betroffenen bestanden habe.

Das Oberlandesgericht Wien gab der Berufung des Antragstellers wegen Nichtigkeit Folge, hob das angefochtene Urteil auf und erkannte in der Sache selbst zu Recht dahin, dass durch die Veröffentlichung der in Rede stehenden Artikel, in Medien in Bezug auf den Antragsteller als Verdächtigen gerichtlich strafbarer Handlungen dessen Name und andere Angaben veröffentlicht wurden, die geeignet sind, in einem nicht unmittelbar informierten größeren Personenkreis zum Bekanntwerden seiner Identität zu führen, und hierdurch schutzwürdige Interessen dieser Person verletzt wurden, ohne dass wegen deren Stellung in der Öffentlichkeit, wegen eines sonstigen Zusammenhangs mit dem öffentlichen Leben oder aus anderen Gründen ein überwiegendes Interesse an der Veröffentlichung dieser Angaben bestanden hatte. Für die dadurch erlittene Kränkung wurden die Antragsgegnerinnen jeweils zur Zahlung von Entschädigungen an den Antragsteller verpflichtet.

Der OGH hob diese Entscheidung auf. Aus der Begründung:

Über einen Tatverdächtigen oder Verurteilten ist eine identifizierende Berichterstattung zulässig, wenn wegen seiner Stellung in der Öffentlichkeit, wegen eines sonstigen Zusammenhangs mit dem öffentlichen Leben oder aus anderen Gründen ein sein Geheimhaltungsinteresse überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an der Preisgabe seiner Identität bestanden hat. Diese Kriterien sind in einer Gesamtschau einzelfallbezogen zu würdigen, um zu einer Beurteilung des Überwiegens von Anonymitäts- oder Veröffentlichungsinteresse zu gelangen.

Ein überwiegendes Informationsinteresse kann sich aus der Person ergeben, über die berichtet wird. Das trifft auf jene Personen zu, die wie bekannte Politiker, führende Wirtschaftstreibende, Spitzenbeamte, prominente Künstler oder Sportler (nach der Judikatur des EGMR: „public figures“) regelmäßig Gegenstand öffentlicher und medialer Aufmerksamkeit sind. Ist eine Person in diesem Sinn nicht als prominent zu bezeichnen, so kann ein sonstiger Zusammenhang mit dem öffentlichen Leben zur Aufhebung ihres Identitätsschutzes führen.

Dass die Tat in einem auffallenden Widerspruch zu den beruflichen Verpflichtungen eines Verdächtigen oder Täters steht, genügt für sich allein nicht, um ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit an der Identität der jeweiligen Person darzustellen. Die „mediale Warnung“ vor einem bestimmten Tatverdächtigen oder Straftäter ist vielmehr nur in jenen Ausnahmefällen gerechtfertigt, in denen es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Identifikation in der Öffentlichkeit ein geeignetes und notwendiges Mittel ist, um weiteren Schaden von der Gesellschaft oder von Einzelnen, die bereits Opfer der Straftaten geworden sind oder konkret Gefahr laufen, Opfer weiterer Straftaten des Betreffenden zu werden, abzuwehren. In solchen Fällen überwiegt nämlich das öffentliche Interesse an der Aufklärung und der Vermeidung von Straftaten die schutzwürdigen Interessen des Tatverdächtigen oder Täters.

Der Antragsteller behandelte (nach der Verdachtslage) sehr wohl seine eigenen Kinder als Arzt, überließ diesen dabei Suchtmittel und stellte insbesondere seiner Tochter über mehrere Monate hinweg unkontrolliert Medikamente, unter anderem starke Schmerz- und Schlafmittel, zur Verfügung, welche bei dieser zu körperlichen Beschwerden und zu Abhängigkeitssymptomen führten, sowie dass er weiters seiner Tochter trotz anhaltend starker körperlicher – teils von ihm (mit-)verursachter – Beschwerden (Muskelkrämpfe, Schweißausbrüche, Übelkeit, Halluzinationen) nicht mit elterlichem und insbesondere auch nicht mit ärztlichem Rat zur Seite stand und weder selbst medizinische Hilfe leistete noch eine solche von dritter Seite veranlasste, wobei die vorbeschriebenen Taten eine Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen zur Folge hatten. Die inkriminierten Taten stehen vielfach – wie dargestellt – in einem (nicht nur mittelbaren, sondern sogar) unmittelbaren Zusammenhang mit der Berufsausübung des Antragstellers als weitreichend tätiger Arzt für Allgemeinmedizin.

Es bestand daher ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an der Identität des Antragstellers, weil die identifizierende Berichterstattung ein geeignetes und notwendiges Mittel war, um (möglichen) Schaden von der Gesellschaft und insbesondere von einzelnen potentiellen Patienten des Antragstellers abzuwehren

Die Anträge des Genannten auf Zuerkennung einer Entschädigung wurden daher vom Erstgericht zutreffend abgewiesen.